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5 Jahre Clearingstelle Gesundheit: Eine Bilanz

Anlässlich ihres fünfjährigen Bestehens bot die Jubiläumsfeier der Clearingstelle Gesundheit am 17. Juli 2025 im EineWeltHaus München [1] einen fundierten Einblick in die Hilfsangebote und medizinische Versorgung von nicht krankenversicherten Menschen. Im Zentrum des Fachvormittags standen strukturelle Herausforderungen und die sozialpolitische Bedeutung dieser Arbeit. Fachvorträge, Erfahrungsberichte und eine Podiumsdiskussion beleuchteten zentrale Fragen zur Gesundheitsversorgung in prekären Lebenslagen und zeigten, wie gelebte Solidarität, kommunale Verantwortung und zivilgesellschaftliches Engagement konkrete Verbesserungen ermöglichen.

Moderatorin Dr. Sophia Berthuet eröffnet die Jubiläumsveranstaltung

Dr. Sophia Berthuet, Abteilungsleiterin sucht-, integrations- und genderspezifische Hilfen bei Condrobs und verantwortlich für die Clearingstelle Gesundheit [2], begrüßte die Teilnehmenden der Jubiläumsveranstaltung und stellte die gesellschaftliche Relevanz der Einrichtung heraus: „Was vor fünf Jahren als Pilotprojekt begann, ist heute ein fester Bestandteil der sozialen Infrastruktur Münchens.“

Sie dankte dem Team, der Landeshauptstadt München und den Kooperationspartner*innen für die Zusammenarbeit und betonte: „Die gute Arbeit der Clearingstelle gelingt nur dank der engagierten Zusammenarbeit vieler Akteur*innen.“

Angekündigt war ein kompaktes, inhaltlich fokussiertes Programm – und das wurde geliefert.

„Gesundheit ist ein Menschenrecht“ – Katrin Bahr betont gesellschaftliche Verantwortung

Mit klaren Worten begann Katrin Bahr, geschäftsführende Vorständin von Condrobs, in ihrem Grußwort den fachlichen Teil der Veranstaltung. Sie stellte die Clearingstelle Gesundheit als praktisches Beispiel sozialer Gerechtigkeit heraus: „Die Clearingstelle ermöglicht Gesundheit, wo zuvor Ausschluss herrschte“, so Bahr. Jede Beratung sei mehr als eine Statistik, sie bedeute individuelle Unterstützung und fordere gesellschaftliche Solidarität.

„Gesundheit ist kein Luxus, sondern ein Recht. Niemand darf in unserem Land von medizinischer Hilfe ausgeschlossen sein“, betonte sie.

Den Gesundheitsfonds der Stadt München nannte sie ein „lebenspraktisches Instrument der Daseinsvorsorge und klares Bekenntnis zu einer solidarischen Stadtgesellschaft.“ Das Publikum reagierte mit viel Applaus, auch weil Bahr deutlich machte: Die Clearingstelle steht für einen politischen Willen, niemanden zurückzulassen.

Wissenschaftliche Einordnung: Prof. Dr. Ilker Ataç analysiert Versorgungsstrukturen in Deutschland

Prof. Dr. Ilker Ataç von der Hochschule Fulda [3] gab einen differenzierten Überblick zur bundesweiten Versorgung nicht versicherter Menschen. Die vorgestellte Studie der Hochschule zeigt: Der Zugang hängt stark vom Aufenthaltsstatus und der Überwindung bürokratischen Hürden ab.

Er kritisierte insbesondere die Übermittlungspflicht an die Ausländerbehörde bei der Beantragung von Sozialleistungen – aus Angst vor Abschiebung mieden Betroffene solche Anträge.

Ataç identifizierte 150 Einrichtungen, die medizinische Hilfe leisten, und betonte die wachsende Bedeutung von Clearingstellen: „Clearingstellen ergänzen die bestehenden niedrigschwelligen medizinischen Hilfen durch professionelle, kommunal finanzierte sozialpädagogische Unterstützung – ein bislang einzigartiges Angebot in der kommunal getragenen Gesundheitsversorgung “

Der Bedarf wachse, ebenso wie die Zahl der Menschen ohne Absicherung, darunter Selbstständige, Geduldete, Wohnungslose und Haftentlassene. Die Münchner Clearingstelle sei in diesem Kontext ein Modell mit Signalwirkung.

„Ein Kind ohne Krankenversicherung ist ein Vertrauensbruch“ – Dr. Sasan Harun-Mahdavi über gesundheitliche Gerechtigkeit

Dr. Sasan Harun-Mahdavi, Zahnarzt, Vorstand eines Menschenrechtsvereins und Mitglied im Münchner Migrationsbeirat [4], rückte in seinem Beitrag die politische Dimension der medizinischen Versorgung in den Mittelpunkt – insbesondere mit Blick auf Kinder ohne Versicherungsschutz. Eindringlich warnte er: „Ein Kind ohne Krankenversicherung ist nicht nur ein Versorgungsrisiko, es stellt einen Vertrauensbruch gegenüber der Idee eines fürsorglichen Staates dar.“

Mit Bezug auf Studien und eigene Erfahrungen aus über 30 Jahren zahnärztlicher Praxis machte Harun-Mahdavi deutlich, wie bürokratische Hürden, fehlende Informationen oder prekäre Lebenslagen dazu führen, dass in Deutschland zehntausende Kinder ohne Absicherung aufwachsen. Besonders problematisch sei die ungleiche Behandlung geflüchteter Menschen: „Während Kinder aus der Ukraine in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen werden, bleibt anderen nur ein Sozialhilfeschein. Das ist weder fair noch nachhaltig.“ Außerdem plädierte er für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für alle Geflüchtete in Bayern, die auch aus wirtschaftlichen Gründen schon in einigen anderen Bundesländern eingeführt wurde.

Sein Plädoyer war klar: Für eine Gesellschaft, die sich demokratisch und solidarisch nennt, müsse gesundheitliche Versorgung allen zugänglich sein, unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Harun-Mahdavi schloss mit einem Appell an Politik und Zivilgesellschaft: „Gesundheit ist keine Frage von Status. Wer Gleichheit will, muss Kindern Schutz und medizinische Teilhabe garantieren – ohne Wenn und Aber.“

Strukturelle Hürden für Gesundheitsgerechtigkeit: Jörn M. Scheuermann über Gesundheit und Wohnungsnot

Jörn M. Scheuermann, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Wohnungsnotfallhilfe [5], betonte den Zusammenhang zwischen Gesundheitsversorgung und Wohnungsnot: „Menschenwürde entsteht nicht von selbst, sie muss struktureller ermöglicht werden. Die Clearingstelle leistet hier täglich einen entscheidenden Beitrag.“

Er verwies auf die Versorgungslücke bei wohnungslosen EU-Bürger*innen, die durch das Sozialleistungsauschlussgesetz faktisch von medizinischer Hilfe abgeschnitten sind. „Wir begleiten Menschen, bei denen es nicht mehr um Heilung, sondern um würdiges Sterben geht“, sagte er eindringlich.

Besonders hob er die Bedeutung des Gesundheitsfonds als konkrete Hilfe und politisches Signal hervor: München handle, während andere noch debattierten.

Sein Appell: Die Arbeit der Clearingstelle müsse auch überregional gedacht werden, mit digitalen Angeboten und stärkerer finanzieller Verantwortung auf Landes- und Bundesebene.

Bilanz mit Tiefgang: Robert Limmer über fünf Jahre Clearingstelle Gesundheit

Robert Limmer, Leiter der Clearingstelle Gesundheit, zog eine präzise Bilanz der vergangenen fünf Jahre. Mit einer Evaluation, Beispielen und klarem Appell verdeutlichte er die Bedeutung der Arbeit: „Menschen ohne Krankenversicherung brauchen schnelle, niederschwellige, verlässliche Hilfe. Genau das leisten wir“, so Limmer.

Neben der Unterstützung bei der Integration in reguläre Krankenversicherungssysteme stellt der Gesundheitsfonds der Landeshauptstadt München ein zusätzliches Instrument zur Sicherstellung medizinischer Versorgung dar. Er ermöglicht es, akut erkrankten Personen ohne Krankenversicherungsschutz eine schnelle, bedarfsgerechte und unbürokratische Behandlung zu finanzieren. Damit schließt der Fonds eine wesentliche Versorgungslücke für Menschen in prekären Lebenslagen.

Seit 2020 wurden über 2.100 Beratungen durchgeführt, über 1.100 Personen im Clearingverfahren begleitet, mehr als die Hälfte erfolgreich in eine Krankenversicherung überführt. „Jeder Fall, der erfolgreich in eine Krankenversicherung vermittelt wird, ist ein konkreter Schritt zu mehr Teilhabe“, betonte er.

Limmer würdigte die gute Zusammenarbeit mit Stadt und Ehrenamtlichen Stellen der Gesundheitsversorgung, verwies aber auch auf den steigenden Bedarf und die quasi Ausschöpfung des Fonds.

Sein Fazit: Die Clearingstelle ist mehr als ein soziales Angebot, sie ist ein wirksames Instrument für die Umsetzung des Menschen Rechts auf Gesundheit in der Münchner Stadtgesellschaft.

Vielschichtiger Austausch auf dem Podium – Herausforderungen und Perspektiven

Zum Abschluss diskutierten Robert Limmer, Jörn Scheuermann, Dr. Harun-Mahdavi und Prof. Dr. Ilker Ataç unter der Moderation von Dr. Sophia Berthuet über Versorgungslücken und Handlungsmöglichkeiten.

Im Fokus standen bürokratische Hürden beim Übergang von Haft in das Sozialsystem, die mangelnde Anschlussversorgung nach Klinikaufenthalten sowie die Notwendigkeit aufsuchender Arbeit.

Positiv wurde die Zusammenarbeit mit der Polizei erwähnt, die auf Kontrolle von illegalisierten Menschen an medizinischen Anlaufstellen verzichtet, allerdings ohne rechtliche Sicherheit.

Die Gesprächsrunde verdeutlichte: Es braucht sowohl politische Reformen als auch engagierte Praxis vor Ort – wie sie die Clearingstelle seit fünf Jahren leistet.

Danke für fünf Jahre Engagement und Zusammenarbeit

Ein besonderer Dank gilt allen Beteiligten, die zum Gelingen der Jubiläumsveranstaltung beigetragen haben – den Referierenden, Diskutierenden, Gäst*innen sowie dem engagierten Team der Clearingstelle Gesundheit.

Besonderer Dank gilt der Landeshauptstadt München [6] für ihre kontinuierliche Unterstützung, den zahlreichen Kooperationspartner*innen für die gute Zusammenarbeit und VIVA CLARA [7], dem sozialen Beschäftigungsbetrieb von Condrobs, der mit seinem Catering auch kulinarisch zum Gelingen des Tages beigetragen hat.

Diese Veranstaltung hat erneut gezeigt:  Gesundheitliche Teilhabe für alle lässt sich nur durch gemeinsame Anstrengung ermöglichen.

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Titelfoto: Jörn M. Scheuermann, Karin Wiggenhauser (Bereichsleitung Hilfen für Erwachsene und bayernweite Angebote, Condrobs e.V.),Dr. Sasan Harun-Mahdavi, Dr. Sophia Berthuet, Barbara Likus (Stadträtin, Mitglied im Gesundheitsausschuss und Fachsprecherin für Menschenrechte, SPD-Fraktion), Prof. Dr. Ilker Ataç, Robert Limmer
Foto 1: Dr. Sophia Berthuet
Foto 2: Katrin Bahr
Foto 3: Prof. Dr. Ilker Ataç
Foto 4: Dr. Sasan Harun-Mahdavi
Foto 5: Jörn M. Scheuermann
Foto 6: Robert Limmer
Foto 7: Podiumsdiskussion
Foto 8: Frage aus dem Publikum