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Fachtag Gleichstellung durch Genderarbeit

Gendersensible Sozialarbeit: Herausforderungen und Aufgaben

Ein Online-Fachtag im Zeichen des fortwährenden Verstehens

Am 05. Mai 2021 hat Condrobs zum Online-Fachtag Gleichstellung durch Genderarbeit eingeladen. Über 130 Teilnehmer*innen bekamen Fakten, Erfahrungen sowie Ein- und Ausblicke zu Themen der Genderarbeit und Diversität geliefert. Gelebte Vielfalt und Gendersensibilität, darin bestand am Ende Einigkeit, sind Teil eines andauernden Lernprozesses, den es anzunehmen gilt.

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Der Vielfalt gerecht werden

„Die Themen Genderarbeit, Diversity und Gleichstellung ziehen sich wie ein roter Faden durch unsere Angebote und Arbeitsbereiche“, so Katrin Bahr, Bereichs-Geschäftsführerin Angebote für Frauen* und Männer* in München, in ihrem Grußwort. Dem schloss sich Eva Egartner, Geschäftsführende Vorsitzende des Condrobs e.V., an: „Die ständige Reflexion und Weiterentwicklung ist uns ein großes Anliegen – und natürlich auch, alle neuen Entwicklungen immer wieder zu integrieren.“

Das Ziel der sozialen Arbeit müsse sein, Tabus und bestehende Machtverhältnisse zu erkennen, aufzudecken, kritisch zu hinterfragen und zu überwinden. „Diversity-Dimensionen sind nicht nur auf Genderfragen begrenzt“ betonte Josef Mederer, Bezirkstagspräsident des Bezirks Oberbayern. „Auch die Generationenvielfalt ist darunter zu verstehen, die nationale Herkunft, Glaube, Behinderung und vieles mehr.“ Vielfalt gerecht zu werden – auch in der Suchthilfe – zeige sich nicht ausschließlich in den speziellen Angeboten. Entscheidend ist die Beschäftigung mit und das Verständnis für individuelle Bedürfnisse.

Bekenntnis zum solidarischen Feminismus

Die Vorreden leiteten direkt zum ersten Beitrag STILL LOVING FEMINISM? – FÜR EINEN SOLIDARISCHEN FEMINISMUS von Zara Jakob Pfeiffer, u.a. wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in der Gleichstellungsstelle für Frauen der Landeshauptstadt München. Die im Titel gestellte Frage beantwortete Zara Jakob Pfeiffer auch direkt mit „ja“. Es gibt jedoch viele Herausforderungen, die den Feminismus betreffen. Auf der einen Seite herrscht ein permanenter Umbruch von Geschlechterverhältnissen. Auf der anderen Seite sind diese Verhältnisse aber dennoch äußerst stabil. „Feminismus ist eine Utopie“, so Pfeiffer. Die „leise daherkommende Revolution“ der letzten Jahre ist eng verbunden mit der Frage nach dem „wir“ des Feminismus. Wer gehört dazu? Wer soll dazugehören? Wer wird (warum) ausgeschlossen? Die Komplexität dieser Fragestellungen wird deutlich, indem man die Facetten von Geschlecht beleuchtet. Auf einer Skala ist das gar nicht konkret einzuordnen, da jede*r Geschlecht für sich selber definiert. Wie „männlich“ oder wie „weiblich“ man sich selbst sieht und fühlt, ist eine individuelle Angelegenheit – mit einer nicht unerheblichen Schwankungsbreite je nach Situation. Doch wie muss feministische Gleichstellungspolitik für alle Geschlechter gedacht werden?

Angebote, die Diskriminierung von Frauen, aber auch von Männern verhindern, müssen weiterhin Bestand haben.

„Gleichstellungsarbeit, die nur von Frauen und Männern redet, ist rückwärtsgewandt“, so Pfeiffer.

Es müsse nicht nur einen rechtlichen Rahmen, sondern auch eine Praxis geben, die Diversität ihren Raum gibt.
Ein großer Erkenntnisgewinn war das Kernthema des Vortrags: Der solidarische Feminismus muss angesichts stärker werdender radikalfeministischer Strömungen unterstützt und gefördert werden. Und die gleichberechtigte Teilhabe von trans*, inter und nonbinären Menschen darf nicht als Verlust für Frauen gelten, sondern als Gewinn. Nur so kann es gelingen, möglichst allen Personen individuell gerecht zu werden.

Die Präsentation von Zara Jakob Pfeiffer als PDF herunterladen [3]

Für eine Entstigmatisierung der Intergeschlechtlichkeit

Mit einem sehr interessanten, aber auch komplexen Beitrag von Andrea Schuler und Luca Böhm von der Trans*Inter*Beratungsstelle Münchner Aids-Hilfe e.V. wurde der Fachtag fortgesetzt. „Dies ist nur eine Einführung“ betonte Andrea Schuler gleich zu Beginn. Das Thema Intergeschlechtlichkeit sei zu vielschichtig, um es in einem knappen Vortrag adäquat behandeln zu können.

Diese Komplexität wurde den Teilnehmer*innen bereits durch einen Überblick zu den verschiedenen Ebenen der Intergeschlechtlichkeit bewusst. Neben der Ebene der Geschlechtsidentität, die eigene Identifikation betreffend, gibt es noch die Ebene des Geschlechtsausdrucks, worunter äußerliche Merkmale fallen (z.B. Bart, Schminke, Kleidung usw.), wobei dies nichts über die tatsächliche geschlechtliche Identität aussagt. Hinzu kommen die Ebene der körperlichen Geschlechtsmerkmale wie Behaarung, Körperfett etc., und die Ebene der sexuellen Orientierung. Es gebe aber, so betonten es Andrea Schuler wie auch Luca Böhm, keinen starren Zusammenhang dieser Ebenen.

„Inter* ist keine Krankheit!“ Mit diesem Statement wurde eine Kernaussage des Beitrags eingeleitet. Nach wie vor wird Intergeschlechtlichkeit in der Medizin als abnormal, als krankhaft beschrieben – mit weitreichenden Konsequenzen. Neben Diskriminierung und Stigmatisierung, die von Andrea Schuler und Luca Böhm anhand biografischer Erzählungen verdeutlicht wurden, stellen menschenrechtsverletzende Eingriffe in Form von unhinterfragten Geschlechtsangleichungen im sehr frühen Lebensalter ein riesiges Problem dar.

Die Folgen fehlender Gleichstellung und Inklusion von intergeschlechtlichen Menschen können sehr weit gehen – bis hin zum Suizid der Betroffenen.

Die anschließenden Reaktionen ließen den Schluss zu, dass der Beitrag für die Teilnehmer*innen ein Augenöffner war, die Herausforderungen für Inter*, Trans* und Nonbinäre tatkräftig anzugehen.

Sexualisierter Substanzgebrauch im Fokus

„Es gibt keine allgemeingültige Definition: das ist ChemSex.“ Der Einleitung ließ Jan Geiger, Sozialarbeiter im Sub e.V., jedoch gleich Merkmale folgen, die das Phänomen ChemSex kennzeichnen. „Alle Menschen haben Bedürfnisse nach Gemeinschaft, nach Nähe, nach Intimität“ so Jan Geiger. Langandauernde Sexpartys, unterstützt mit illegalen Substanzen – oftmals mit dem Hintergrund, die geschilderten Grundbedürfnisse zu stillen. Einen Einblick in diese schwule Subkultur bekamen die Teilnehmer*innen durch den Beitrag „CHEMSEX – SEX, DROGEN UND PARTY ALS LÖSUNGSVERSUCH.

Aber warum eigentlich ChemSex?„Es enthemmt und soll die Erfahrung insgesamt verbessern“, so Jan Geiger. Näher betrachtet kann es jedoch diverse Erklärungsmodelle geben. Zum einen ist die Zugehörigkeit zu einer besonderen Gruppe identitätsstiftend. Zum anderen lässt sich durch das Eintauchen in diese Parallelwelt dem Alltag entfliehen.

Eine weitere Theorie ist die des Edgework. „Das Konzept geht davon aus, dass es Aktivitäten gibt, bei denen man freiwillig große Risiken eingeht.“ Im Falle des ChemSex besteht dieses Risiko nicht nur in den von den Drogen ausgehenden Gefahren. Auch Krankheiten wie eine HIV-Infektion stellen nach wie vor ein großes Problem dar.

Mit viel Detailwissen führte Jan Geiger durch seinen Vortrag: Welche Drogen welchem Zweck dienen, wie die Organisation der oftmals tagelangen Sexpartys vonstattengeht und dass außerhalb dieser in sich sehr geschlossenen Szene wenig zu diesem Thema bekannt ist. Gleichzeitig war dieser Beitrag für viele Teilnehmer*innen ein Ansporn, sich eingehender zu informieren und dem Thema zu öffnen.

Männlichkeit(en), Suchthilfe und –prävention

Thomas Altgeld, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V., durfte mit AUFFÄLLIG SÜCHTIG, ABER KAUM BEACHTET? ÜBER MÄNNLICHKEITEN IN SUCHTHILFE UND PRÄVENTION die Beitragsreihe schließen.

„Männer haben die Schwierigkeit, in der klassischen […] Vorstellung von Männlichkeit eben mit Härte assoziiert zu werden und nicht mit Hilfe suchen und Fürsorglichkeit für sich selbst.“

Männer, so Thomas Altgeld, werden in eine Rolle gedrängt, die die Annahme von Hilfsangeboten nicht attraktiv wirken lässt. Viel Alkohol vertragen, schlechte Selbstversorgung, übertriebene Körperideale und gesellschaftlich veraltete Erwartungshaltungen erfüllen – Männlichkeit hat häufig, so Altgeld, etwas mit der „Demonstration von Macht und Stärke“ zu tun.

Um den vielfältigen Problemen begegnen und um präventiv wirken zu können, muss man(n) aber auch richtig angesprochen werden. Angebote gehören männergerechter gestaltet, die Ansprache darf durchaus Stereotype bedienen. Nur auf diesem Wege könne man Männer mit traditioneller Vorstellung richtig erreichen.

Eine zentrale Erkenntnis des Beitrags war folgende: Männer zum Sprechen zu bringen. Denn nur dann, wenn Männer sich und ihre Probleme ernst genommen fühlen und sie den Raum bekommen, sich artikulieren zu können, kann ihnen die entsprechende Hilfe zuteil werden.

Die Präsentation von Thomas Altgeld als PDF herunterladen [4]

Wir wollen lernen

Fortwährendes Lernen, Verstehen und Verbessern – unter diesem Credo kann der Fachtag Gleichstellung durch Genderarbeit zusammengefasst werden. Die Teilnehmer*innen waren sich einig, dass man sich für eine allen gerecht werdende Gender- und Sozialarbeit nicht auf dem Erreichten ausruhen dürfe. Inklusion, Integration und Gleichstellung aller Menschen ist das Ziel. Und hier hilft nur Verständnis und ständiges Dazulernen.

Eine Aufnahme vom Fachtag ist auf Youtube zu sehen. [5]