Am 11. September wird jedes Jahr bundesweit der Tag der Wohnungslosen begangen, der auf die prekäre Situation von Menschen ohne festen Wohnsitz aufmerksam machen will. Wohnungslosigkeit ist eine der drängendsten sozialen Herausforderungen unserer Zeit. Jeden Tag sind Menschen in unserer Gesellschaft von dieser Realität betroffen, die oft mit Isolation, Unsicherheit, dem Verlust des Jobs, des sozialen Umfelds und des Lebensgrundes einhergeht.
Allein in Bayern gibt es über 39.000 Wohnungslose (Stand 2024). Innerhalb eines Jahres sind im Freistaat ca. 7.000 Menschen dazugekommen, die wohnungslos sind – die Dunkelziffer dürfte beträchtlich höher liegen.
Wie schnell es geschehen kann, in die Wohnungslosigkeit zu geraten, zeigt die Geschichte von Mario Schmidt (Name geändert). Der Bewohner des Condrobs Flexi-Heims schildert im Interview mit Condrobs seinen Werdegang und seine Erlebnisse.
Condrobs: Hallo, Herr S., Sie leben seit August 2023 in unserem Flexi-Heim in München Freiham und haben sich bereit erklärt, mit mir über Ihre persönlichen Erfahrungen mit der Wohnungslosigkeit zu sprechen. Vielen Dank dafür. Möchten Sie sich zu Beginn des Interviews kurz vorstellen?
Mario Schmidt: Gerne. Ich bin 52 Jahre alt und stamme ursprünglich aus Sachsen-Anhalt. Dort habe ich eine Ausbildung zum Walzwerker absolviert. Da es mit der Zeit immer schwieriger wurde, in diesem Beruf eine Anstellung zu finden, ging ich 1997 nach München. Dort war ich über 20 Jahre lang als Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes tätig.
Condrobs: Das hört sich nach einem sehr soliden Leben an: wie kam es, dass sie dennoch wohnungslos wurden?
Mario Schmidt: Begonnen haben meine finanziellen Schwierigkeiten während der Corona-Pandemie. Viele öffentliche Einrichtungen, wie z.B. Museen und Veranstaltungsorte, mussten geschlossen werden. Dies hatte zur Folge, dass ich als Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes meine Arbeitszeit reduzieren musste und nur noch ein sehr geringes Einkommen zur Verfügung hatte. Ich musste aber weiterhin mehrere Kredite abbezahlen, die ich für die Einrichtung meiner Wohnung und zur Unterstützung meiner Eltern aufgenommen hatte. Das Geld fehlte an allen Ecken und Enden und ich geriet auch mit meinen Mietzahlungen in Rückstand.
Leider war ich zu dieser Zeit an einen privaten Schuldnerberater geraten, der mich nicht angemessen beriet, aber dennoch Kosten für anwaltliche Tätigkeiten in Rechnung stellte. Wäre ich damals schon zur Schuldnerberatung der AWO gegangen, von der ich inzwischen unterstützt werde, hätte die Wohnungslosigkeit wahrscheinlich vermieden werden können.
Als mein Vermieter mir schließlich im Sommer 2021 kündigte, war ich gezwungen, in eine Unterkunft für wohnungslose Menschen zu ziehen.
Condrobs: Wie ging es damals weiter, nachdem Sie wohnungslos geworden waren?
Mario Schmidt: Ich war froh, dass ich überhaupt ein Dach über dem Kopf hatte. Nur so war es mir möglich, weiterhin meiner beruflichen Tätigkeit nachzukommen. Aber es war sehr schwierig für mich, dass ich so wenig Privatsphäre hatte, z.B. Küche, Bad und Toilette mit vielen Menschen teilen musste. Die Lärmbelastung durch andere Bewohner*innen hat mich oft vom Schlafen abgehalten. Das ist eine ziemliche Herausforderung, wenn man morgens ausgeschlafen zur Arbeit erscheinen muss.
Condrobs: Wie haben Sie sich damals gefühlt?
Mario Schmidt: Im ersten Jahr habe ich mich sehr geschämt und hatte das Gefühl, versagt zu haben. Gerade als Mann wird man so sozialisiert, dass finanzielle Leistungsfähigkeit sehr wichtig ist und man in der Lage sein muss, eine Familie zu versorgen. Schulden zu haben und seine Miete nicht bezahlen zu können, passt da gar nicht ins Bild. Ich habe meine Wohnungslosigkeit daher lange Zeit verheimlicht, sogar gegenüber meiner Mutter und meinen engsten Freunden. Das war sehr schwierig, denn ich musste mich immer verstellen und habe die ganze Zeit ein Geheimnis mit mir herumgeschleppt. Insgesamt war das eine sehr belastende Zeit. Über Wasser gehalten hat mich damals vor allem meine Berufstätigkeit. Sie hat mich abgelenkt und meinem Leben einen Sinn vermittelt.
Condrobs: Inzwischen gehen Sie aber sehr offen mit dem Thema um, haben sogar Interviews mit der SZ geführt und im Fernsehen über Ihre Situation gesprochen. Wie kam es zu diesem Umschwung?
Mario Schmidt: Hier war meine Betreuerin bei der Schuldnerberatung eine große Unterstützung. Sie hat mir geholfen zu erkennen, dass ich mich für meine Situation nicht schämen muss. Mir war wichtig, mit den Interviews anderen Menschen Mut zu machen. Ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind und dass es einen Weg heraus gibt aus der Schuldenfalle
Condrobs: Seit einem Jahr leben sie nun in unserem Flexi-Heim in der Grete-Weil-Straße. Wie unterscheidet sich diese Einrichtung von anderen Unterkünften, in denen Sie gelebt haben?
Mario Schmidt: Ich bin wenige Wochen nach Eröffnung hier eingezogen. Beim Einzug ist mir gleich aufgefallen, dass alles noch ganz neu ist. Es gibt Gemeinschaftsräume und -terrassen, aber alle Bewohner*innen haben kleine Appartements mit einer Küchenzeile und einem eigenen Bad. Auf dem Weg aus der Wohnungslosigkeit ist das Flexi-Heim der letzte Schritt vor der eigenen Wohnung. Ich muss mich zwar alle sechs Monate beim Amt um eine Verlängerung bemühen, kann aber grundsätzlich so lange hier bleiben, bis meine Wohnungssuche Erfolg hat. Das ist sehr beruhigend für mich. Ich schätze auch das engagierte Team. Positiv finde ich, dass die Abenddienste nicht von einem Sicherheitsdienst abgedeckt werden, sondern von fest angestellten Mitarbeiter*innen, die immer ein offenes Ohr für die Bewohner*innen haben.
Im Flexi-Heim leben nur Menschen, die von anderen Unterkünften vorgeschlagen wurden, weil sie mietfähig sind und relativ wenig Unterstützungsbedarf haben. Dennoch ist das enge Zusammenleben mit so vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters eine Herausforderung. Da braucht es viel Toleranz, um zu einem guten Miteinander zu kommen.
Condrobs: Was trägt ihrer Einschätzung nach zu einem guten Miteinander bei?
Mario Schmidt: Ich bemühe mich immer, freundlich und tolerant zu sein und Interesse an meinen Mitmenschen zu zeigen, gerade wenn sie aus anderen Kulturkreisen stammen. Wenn ich kann, unterstütze ich meine Mitbewohner*innen auch praktisch, z.B. indem ich sie auf Unterstützungsangebote wie die Schuldnerberatung hinweise.
Die Mitarbeiter*innen können helfen, indem sie bei Konflikten moderieren und dadurch das gegenseitige Verständnis fördern. In manchen Fällen müssen Sie auch klare Grenzen setzen. Zum Beispiel hat sich ein Bewohner immer wieder rassistisch geäußert und versucht, im ganzen Haus Stimmung gegen Menschen mit Migrationshintergrund zu machen. Dies habe ich der Einrichtungsleitung gemeldet. Nachdem verschiedene Sanktionen keine Wirkung gezeigt hatten, musste die Person schließlich die Einrichtung verlassen.
Gemeinsame Aktionen und Freizeitaktivitäten können das Miteinander ebenfalls stärken. Hierfür fehlt es dem Flexi-Heim leider manchmal an personellen Ressourcen.
Condrobs: Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?
Mario Schmidt: Beruflich soll es weiter so gut laufen wir bisher. Seit letztem Jahr bin als Quereinsteiger im Bereich IT tätig. Die Arbeit ist interessant und macht mir Spaß. Ansonsten suche ich aktiv nach einer eigenen Wohnung, gerne hier in München Freiham. Ich hoffe, dass ich bald fündig werde und das Thema Wohnungslosigkeit für immer hinter mir lassen kann.