München, 19. Juli 2024 – Da der traditionell am 21. Juli stattfindende Gedenktag für verstorbene drogengebrauchende Menschen diesmal auf einen Sonntag fällt, wurde die Kundgebung auf dem Münchner Marienplatz dieses Jahr auf den 19. Juli vorgezogen. Angehörige, Vertreter*innen von Stadt und Suchthilfeträgern sowie interessierte Bürger*innen kamen an diesem Freitag ab 11.30 Uhr zusammen, um der 72 verstorbenen drogengebrauchenden Menschen in München in den vergangenen 12 Monaten zu gedenken.
Erinnerung an die Verstorbenen
Olaf Ostermann, Abteilungsleiter für Angebote für Ältere und niedrigschwellige Hilfen bei Condrobs und Moderator der Veranstaltung, verdeutlichte, worin neben den politischen Forderungen, die an diesem Tag adressiert werden, der tiefere Sinn der Trauerfeier liegt. Er betonte: „Unser Anliegen ist es, die Erinnerung an die Verstorbenen lebendig zu halten. Durch unser Gedenken möchten wir ihnen Namen und Gesicht verleihen, sodass sie nicht in Vergessenheit geraten. Wir wollen sicherstellen, dass ihre Geschichten und ihr Leben nicht in der Anonymität verschwinden, sondern dass sie als individuelle Menschen anerkannt und gewürdigt werden. Diese Gedenkfeier dient dazu, ihr Andenken zu ehren und ihre Bedeutung in unserer Gemeinschaft zu unterstreichen.“
Bundesbeauftragter für Sucht- und Drogenfragen spricht Unterstützung aus
Burkhard Blienert, Bundesbeauftragter für Sucht- und Drogenfragen, ließ es sich dieses Jahr nicht nehmen, persönlich auf dem Gedenktag in München zu erscheinen und zu sprechen. In seinem Grußwort hob er hervor, dass die Zahlen der Drogentoten immer sehr abstrakt erscheinen. Im Jahr 2023 waren es bundesweit 2227 Tote, doch diese Zahl allein drücke nicht aus, was die Menschen wirklich bewegt. „Wir müssen immer daran denken, dass Drogengebraucherinnen und -gebraucher Eltern haben, Geschwister haben, Familie haben, Lebenspartner oder Partnerinnen, Kinder, Arbeitskolleginnen und -kollegen, ein soziales Umfeld.“
Besondere Bedeutung maß er dem Abbau von Stigmatisierung bei, die Menschen wegen ihres Drogenkonsums erleben: „Dieses Stigma, was Menschen mit sich tragen, müssen wir gesellschaftlich aufbrechen.“ Er betonte, dass jeder Mensch ein Recht auf ein gesundes Leben hat, auch diejenigen, die Drogen gebrauchen, und forderte umfassende Unterstützungsmöglichkeiten wie niedrigschwellige Angebote, Drogenkonsumräume und Substitution.
Abschließend dankte Blienert den Anwesenden für ihre Anteilnahme: „Ich möchte in einem Land leben, in dem man sich für soziale Arbeit, für das Einsetzen für die Mitmenschen nicht schämen muss. In dem es nicht nur um Ökonomisierung geht und Zwänge, sondern in dem es um die Potenziale geht, die jeder einzelne hat und einbringen kann in die Gesellschaft.“ Dieser Ansatz erfordere ein Umdenken, so Blienert, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, anstatt nur wirtschaftliche Interessen zu verfolgen.
Bürgermeisterin appelliert an bayerische Staatsregierung
„Wie können Politik und Gesellschaft dafür sorgen, dass weniger Drogengebrauchende sterben? Wie können wir sicherstellen, dass Menschen, die abhängig sind und Drogen konsumieren, dies so sicher wie möglich tun können?“, so Bürgermeisterin Verena Dietl in ihrem Redebeitrag. „Welche Maßnahmen sind notwendig, um drogengebrauchende Menschen vor den Risiken des Konsums zu bewahren oder diese Risiken zu reduzieren? Eine wesentliche Antwort darauf sind die Einrichtung von Drogenkonsumräumen und die Möglichkeit zum Drug-Checking.“
30 Drogenkonsumräume sind, so Dietl weiter, in Deutschland mittlerweile eingerichtet. Bayern hingegen gehört zu den Bundesländern, in denen solche Räume rechtlich nicht möglich sind, da die bayerische Staatsregierung die erforderliche Rechtsverordnung nicht erlassen hat. „Dieser wichtige Baustein zur Vermeidung von Todesfällen wird durch die bayerische Staatsregierung nach wie vor verhindert.“
Eine weitere Maßnahme zur Verhinderung von Todesfällen ist das Drug-Checking, das besonders gesundheitsschädliche Stoffe und Beimischungen erkennt und den Wirkstoffgehalt feststellt. Der Bundestag hat im Juni 2023 eine gesetzliche Regelung beschlossen, die es den Bundesländern ermöglicht, Modellvorhaben zu genehmigen. „Das Bündnis bayerischer Suchthilfeträger und Verbände appelliert an die bayerische Staatsregierung, entsprechende Modellvorhaben zu ermöglichen.“
Positiv hervorzuheben seien laut der Bürgermeisterin die Einrichtungen der Münchner Suchthilfe, die einen entscheidenden Beitrag leisten, dass die Zahl der Drogentodesfälle nicht deutlich höher liegt. Die Mitarbeitenden unterstützen drogenabhängige Menschen auf vielfältige Weise, ihre Suchterkrankung zu überwinden oder zumindest weniger risikoreich zu konsumieren, ihre Gesundheit zu stabilisieren und ihre Lebensumstände zu verbessern.
Schadensreduzierende Maßnahmen müssen ermöglicht werden
Claudia Ak, Mitglied des JES Bundesvorstands und Sprecherin für JES München, sprach über ihre langjährigen Erfahrungen in der Drogenpolitik. Seit 45 Jahren konsumiert sie Drogen und koordiniert seit zwei Jahren die regionalen Gruppen im Süden Deutschlands für den JES Bundesverband.
Claudia lebte 28 Jahre in München, die Hälfte dieser Zeit als drogengebrauchende Frau, und zog in ein liberaleres Bundesland, um der „völlig veralteten und menschenfeindlichen Drogenpolitik“ in Bayern zu entkommen. Besonders in diesem Jahr fühle sie sich bestätigt, Bayern verlassen zu haben, angesichts der Rekordzahl an verstorbenen Drogengebrauchenden in Deutschland: 2227 Menschen im letzten Jahr, darunter 277 allein in Bayern.
Viele der Verstorbenen hätten lediglich eine Behandlung oder ein Zuhause benötigt. Doch die bayerische Staatsregierung, so Claudia Ak, „bestraft“ diese Menschen mit ihrer Engstirnigkeit und verweigert seit Jahren eine Landesverordnung, die schadensreduzierende Maßnahmen wie Drogenkonsumräume und Drug-Checking ermöglichen würde, obwohl viele Kommunen dies fordern.
Der JES Bundesverband fordert daher die bayerische Staatsregierung auf, folgende Maßnahmen zu ergreifen: Bereitstellung von Drogenkonsumräumen in allen Kommunen, flächendeckendes Drug-Checking, Aufstockung der Gelder für Aids- und Drogenhilfen, Klärung der Substitutions-Versorgungsprobleme und Einführung mobiler Substitutions-Versorgung, niedrigschwelliger Zugang zur Diamorphinsubstitution, Bereitstellung ausreichender Tagesruheplätze und Wohnungen, jugendgeeignete Präventionsprogramme sowie flächendeckende kostenlose Verteilung von Naloxon und Schulung der Konsumenten.
Verstärkte Anstrengungen in der Drogenpolitik
Stephanie Riehm von der Münchner Aidshilfe betonte in ihrer Rede die Bedeutung des Gedenktags: „Er ist ein Tag des Erinnerns, des Trauerns und der Solidarität.“
Das diesjährige Motto „Konsumsicherheit für alle(s)“ fordere verstärkte Anstrengungen in der Drogenpolitik in Deutschland, Bayern und München. Trotz Fortschritten in der Gesundheitsversorgung und Prävention gäbe es, so Riehm, einen leichten Anstieg der HIV-Neuinfektionen bei intravenös Drogen konsumierenden Menschen, bedingt durch eine unzureichende Anbindung an Testangebote. Um dem entgegenzuwirken, fuhr Riehm in ihrer Rede fort, arbeite die Münchner Aidshilfe mit Drogenkontaktläden zusammen, biete regelmäßige Testaktionen für HIV und Hepatitis C an und kläre über Behandlungsmöglichkeiten und Prävention auf. Die langjährige Arbeit der Münchner Aidshilfe in der Prävention von Infektionskrankheiten hänge jedoch vom gesellschaftlichen Rückhalt ab, betonte Stephanie Riehm.
Ein weiteres Beispiel für erfolgreiche Präventionsarbeit seien die sechs Präventionsautomaten in München: „Wir bieten Konsument*innen die Möglichkeit an, sich vor Infektionen wie HIV und Hepatitis durch den Kauf von sterilen, sicheren Nadeln zu schützen und diese auch direkt über den Automaten sicher zu entsorgen.“ Weitere Abwurfbehälter der Stadt für Spritzen sowie Drogenkonsumräume würden die Akzeptanz in der Bevölkerung stärken, so Riehm.
Möglichkeiten der Schadensminimierung müssten allen Menschen, die intravenös Drogen konsumieren, in allen Bundesländern zur Verfügung stehen. Dies gelte auch für Menschen in Haft: „Sie benötigen einen Zugang zu Safer Use, um zusätzliche Infektionen zu verhindern.“
Forderung nach Drug-Checking und Konsumräumen
Nach wie vor ist die Zahl der verstorbenen Drogengebraucher*innen in Bayern alarmierend hoch. Viele dieser Todesfälle hätten durch geeignete Maßnahmen verhindert werden können. „Es darf nicht sein, dass Menschen an den Folgen ihrer Erkrankung sterben, wenn unser Hilfesystem in der Lage ist, dies zu verhindern“, betonte Katrin Bahr, Geschäftsführende Vorständin von Condrobs.
Die Einführung von Drug-Checking würde es Konsument*innen ermöglichen, ihre Substanzen vor dem Konsum auf gefährliche Verunreinigungen oder hohe Wirkstoffkonzentrationen zu überprüfen, wodurch das Risiko von Überdosierungen und gesundheitlichen Komplikationen erheblich reduziert würde. Drogenkonsumräume böten einen geschützten Ort für den hygienischen Konsum unter der Aufsicht von geschultem Personal, was die unmittelbaren Risiken minimiere und eine sichere Umgebung schaffe. In diesen Räumen, so Bahr, könnten auch weiterführende Hilfsangebote und Beratungen bereitgestellt werden, die den Betroffenen helfen, Wege aus der Abhängigkeit zu finden und langfristige gesundheitliche Schäden zu vermeiden.
„Wir könnten Leben retten und die Gesundheit der Menschen nachhaltig verbessern“, so Bahr weiter. „Diese Maßnahmen sind längst überfällig und dürfen nicht länger hinausgezögert werden.“ Bahr betonte, dass solche Maßnahmen nicht nur die akuten Risiken verringern, sondern auch langfristig die Lebensqualität der Betroffenen verbessern würden.
Modellprojekt notwendig
Auch Prop e. V. schlägt Alarm angesichts der zunehmenden Probleme im Umgang mit Drogenkonsum. Marco Stürmer, Geschäftsführer von Prop, äußerte sich besorgt über die gegenwärtigen Entwicklungen: „Die aktuell großen Herausforderungen in der Suchthilfe bereiten uns zunehmend mehr Sorgen. Wir sehen hochproblematische Entwicklungen bei Kokain, Crack und synthetischen Opioiden.“ Eine weitere Verschärfung der Situation sei „immer mehr Drogenkonsum im öffentlichen Raum und weiter fortschreitende Verelendung in der Gruppe der Drogengebraucher*innen“, so Stürmer.
Er betonte die Notwendigkeit eines „Modellprojekts Drogenkonsumraum“ in Bayern. Ein solches Projekt sei eine dringende Maßnahme, um den genannten Problemen entgegenzuwirken und den Betroffenen eine sichere Umgebung zu bieten.
Herausforderungen im Suchtbereich nehmen zu
Die seit 2017 stetig steigende Zahl an verstorbenen Drogengebraucher*innen in Deutschland unterstreicht die dringende Notwendigkeit zusätzlicher Versorgungsangebote. Margot Wagenhäuser, Leitung des Caritas Therapieverbund Sucht München, machte dies in ihrem Redebeitrag deutlich: „Wir benötigen dringend mehr niederschwellige Versorgungsangebote wie Drogenkonsumräume und Drug-Checking.“
Angesichts der aktuellen Entwicklungen, insbesondere dem Anstieg des Kokain- und Crackkonsums sowie dem vermehrten Auftreten sehr junger Opioidkonsument*innen, sieht Wagenhäuser dringenden Handlungsbedarf: „Wir brauchen neue Behandlungsangebote und -konzepte, um eine adäquate Versorgung der Betroffenen gewährleisten zu können.“ Die Herausforderungen im Suchtbereich nehmen kontinuierlich zu: „Um diesen gerecht werden zu können, benötigt die Suchthilfe eine stabile finanzielle Ausstattung.“
Fotocredit: Florian Freund (https://www.florian-freund.de/)
*********** Titelbild: Condrobs-Vorständin Katrin Bahr legt eine weiße Rose zum Gedenken ab Bild 1: Burkhard Blienert vor der Tafel der verstorbenen Drogengebraucher*innen Bild 2: Gruppenbild v.l.: Margot Wagenhäuser (Cartitas Therapieverbund Sucht München), Claudia Ak, Thekla Andresen (beide JES), Burkhard Blienert (Bundesbeauftragter für Sucht- und Drogenfragen), Katrin Bahr (Geschäftsführende Vorständin Condrobs e. V.), Marco Stürmer (Geschäftsführer von Prop e. V.), Stephanie Riehm (Münchner Aidshilfe, Leitung Bereich Beratung und Prävention) Bild 3: Olaf Ostermann, Abteilungsleitung Angebote für Ältere und niedrigschwellige Hilfen München, Condrobs e. V. Bild 4: Burkhard Blienert, Bundesbeauftragter für Sucht- und Drogenfragen Bild 5: Verena Dietl, 3. Bürgermeisterin der Landeshauptstadt München Bild 6: Claudia Ak, Mitglied des JES Bundesvorstands und Sprecherin für JES München Bild 7: Katrin Bahr, Geschäftsführende Vorständin Condrobs e. V. Bild 8: Stephanie Riehm, Münchner Aidshilfe, Leitung Bereich Beratung und Prävention Bild 9: Marco Stürmer, Geschäftsführer von Prop e. V. Bild 10: Margot Wagenhäuser, Cartitas Therapieverbund Sucht München Bild 11: Impression vom Gedenktag Bild 12: Begleitband Donnelly Connection Bild 13: Ärzte der Welt Bild 14: Impression vom Gedenktag Bild 15: Impression vom Gedenktag Bild 16: Konsumraum-Pavillon