Gemeinsames Positionspapier

10. Juni 2021

Für eine wissenschaftlich-basierte Substitutionspraxis in bayerischen Haftanstalten

München, Juni 2021 – Wissenschaftliche Studien belegen mehrfach positive Auswirkungen der Substitutionsbehandlung für Menschen mit Opioidabhängigkeit, den Justizvollzug und die Öffentliche Gesundheit. Dennoch werden Betroffene in bayerischen Haftanstalten nur zögerlich oder gar nicht substituiert. Wir fordern deshalb gemeinsam mit mehreren weiteren Trägern die Ausrichtung und Beachtung der Richtlinien der Bundesärztekammer (BÄK, 2017) zur Substitutionsbehandlung.
Der folgende Text ist gekürzt. Das komplette Positionspapier mit Quellenangaben und beteiligten Trägern können Sie hier herunterladen und lesen.
Obwohl Suchtmittelabhängigkeit seit 1968 durch das Urteil des Bundesgerichtshofs als chronische Erkrankung anerkannt ist, findet diese wissenschaftliche Tatsache insbesondere in Justizvollzugsanstalten noch zu wenig Anerkennung. Dies zeigt sich vor allem im Umgang mit Behandlungsmöglichkeiten der Opioidabhängigkeit durch Justizvollzugsanstalten und in Gerichtsentscheidungen im Bundesland Bayern. Die Substitution hat sich mittlerweile als Behandlungsangebot im Vollzug tausendfach bewährt. Trotz der rechtlichen Lage, der ausgezeichneten Forschungslage mit positiven Aussagen zur Wirksamkeit der Substitutionsbehandlung sowie entsprechenden Praxiserfahrungen, wird in bayerischen Haftanstalten nach wie vor nur zurückhaltend von dem Behandlungsangebot Gebrauch gemacht.

Positive Auswirkungen der Substitution für Betroffene – und die Allgemeinheit

➔ Das Risiko einer Infektion mit HIV/HCV/HBV durch das Teilen von Konsumutensilien wird deutlich gesenkt. In der Folge wird der Gesundheitszustand der Patient*innen verbessert und Folgekosten für das Gesundheitssystem reduziert.
➔ Substitutionsbehandlung sorgt für einen Rückgang von erkrankungsbedingter Delinquenz. Der Zugangsweg zu Substitutionsmitteln verläuft über die Gesetzlichen Krankenversicherungen. Es müssen keine finanziellen Mittel für die Beschaffung des Suchtmittels aufgewendet werden, Strafverfolgung aufgrund von Besitz, Handel etc. von illegalen Substanzen bleiben aus.
➔ Verbesserung der individuellen (psycho-)sozialen Situation: Psychischer Druck durch ein ständiges Leben in der Illegalität wird verringert, außerhalb der Haftanstalten wird die Behandlung durch die Psychosoziale Beratung ergänzt, um rückfallbegünstigende Situationen und Ereignisse frühzeitig ausmachen und eindämmen zu können.
➔ Die Gefahr von Überdosierungen wird minimiert: Durch die Substitutionsbehandlung wird das Risiko eines weiteren (Bei)konsums verringert, in der Folge auch das Risiko einer Überdosierung von Opioiden. Insbesondere im Hinblick auf die Haftentlassung besteht hier das größte Risiko.
➔ Studien belegen einen Rückgang von entzugsbedingten Gewalttaten im Vollzug. Die Substitutionsbehandlung fängt Entzugssymptome auf bzw. vermeidet diese, was aggressives Verhalten und somit Gewaltdelikte reduzieren kann. Zugleich wird eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit beschrieben.
➔ Ein Teufelskreis aus sogenannter Beschaffungskriminalität (s. oben) und erneuter Inhaftierung kann durchbrochen werden. In der Folge lässt sich eine Entlastung der JVAs und der Allgemeinheit ausmachen. Eine der wichtigsten Wirkweisen der Substitution ist die Reduktion des Cravings, also des Heroinhungers. Durch die Behandlung von opioidabhängigen in Haft kann somit der fortgesetzte Konsum von Heroin minimiert werden.

Eine Frage von Recht und Ethik

➔ Artikel 5 Abs. 1 des BayStVollzG: Der sogenannte Angleichungsgrundsatz soll sicherstellen, dass Inhaftierte dieselbe Behandlung erfahren können wie in Freiheit.
➔ Art. 60 des BayStVollzG legt die Krankenbehandlung im Vollzug fest. „Gefangene haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.“
➔ Vor einem Abbruch der Therapie sollten alle anderen Interventionsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Das Durchbrechen des Tabus über Konsum im Strafvollzug ist notwendig, um im therapeutischen Prozess einen möglichen Beigebrauch zu thematisieren und das Therapiekonzept optimieren zu können (Anpassungen von Dosis und Darreichungsform, Einbeziehen psychosozialer Beratung etc.).
➔ Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) besagt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt
werden darf. Dies meint neben einem absichtlichen Herbeiführen von schweren psychischen oder physischen Leiden mit einem gewissen Minimum der Schwere, auch das Vorenthalten medizinischer Versorgung, wie eben der Substitutionsbehandlung.
➔ Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Substitutionspraxis im bayerischen Vollzug in 2016. Der Fall „Wenner gegen Deutschland“ belegte, dass in einer Justizvollzugsanstalt in Bayern anhaltend gegen Menschenrechte verstoßen worden war, als dem Inhaftierten die Substitutionsbehandlung bei vorliegender Indikation verwehrt wurde.
➔ Nach Artikel 2, Abs. 2 S. 1 GG wird allen Menschen das Recht auf Leben und körperliche Integrität garantiert. Eine Verletzung dieses Rechts ergibt sich jedoch nicht nur aus der aktiven Absicht zur Schädigung, sondern ggf. auch durch eine Unterlassung. Immer wieder kommt es in Bayern zur Verwehrung von Substitutionsbehandlung, da opioidabhängigen Patient*innen in Haft kein Status als Erkrankte im Sinne einer chronischen Krankheit zuerkannt wird.
Eine Verweigerung der Substitutionsbehandlung trotz vorliegender Indikation kann als Beeinträchtigung von Grundrechten und Verletzung der staatlichen Schutzpflicht gewertet werden. Die Anstalt muss also eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG ausschließen.

Fazit

Die Substitutionsbehandlung – auch in Haft – ist eine wissenschaftlich evaluierte und medizinisch fundierte Behandlung bei Opioidabhängigkeit. Die positiven Effekte der Substitutionsbehandlung entfalten ihre Auswirkungen neben der individuellen Situation der Betroffenen und ihrer Angehörigen aber auch im gesellschaftlichen Alltag, im Hinblick auf die Allgemeinheit und nicht zuletzt auf die Haftsituation selbst.
In über 40 Mitgliedsländern des Europarates findet eine Substitutionsbehandlung in Haft statt. In Bayern jedoch wird sie weiterhin häufig verwehrt oder an hohe Hürden geknüpft. Staatliche Institutionen wie Gerichte und Justizvollzugsanstalten müssen mit gutem Beispiel vorangehen und sich auf wissenschaftliche Evidenz, rechtlichen Grundlagen und obersten Gerichtsurteilen beziehen. Sie müssen ihre Verantwortung annehmen und wissenschaftliche Fakten anerkennen.
Konkret bedeutet dies ein einheitliches Vorgehen aller Bundesländer, die Richtlinien der Bundesärztekammer und die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung ausnahmslos umzusetzen. Diesen Appell möchten wir aufgrund der beschränkten Behandlungsangebote in Bayern insbesondere an die bayerische Justiz richten und diese auffordern, sich für eine konsequente Umsetzung dieser Richtlinien, sowie der Kontrolle der Umsetzung durch unabhängige Instanzen einzusetzen.

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