90 Jahre drauf & dran: Wie akzeptierende Suchthilfe in München Leben verändert

31. Oktober 2025
Jubiläumsfeier

Niedrigschwellige akzeptierende Suchthilfe – das klingt nach Fachsprache. Tatsächlich beschreibt es etwas sehr Konkretes: Orte, an denen Menschen mit Suchtmittelgebrauch willkommen sind. Ohne Bedingungen, ohne Bewertung. Orte, an denen Hilfe beginnt, wo andere Angebote längst aufhören.

Vier solcher Orte gehören zu Condrobs und prägen seit Jahrzehnten das Münchner Hilfesystem: der Kontaktladen off+, der seit 35 Jahren Menschen mit Suchtmittelgebrauch begleitet, der Kontaktladen limit (25 Jahre), das Suprima Wohnheim und der Spendenladen & Secondhand, die beide seit 15 Jahre bestehen. Zusammen ergeben sie 90 Jahre niedrigschwellige, akzeptierende Suchthilfe – 90 Jahre drauf & dran. Dieses wichtige Jubiläum wurde am 29.10. groß gefeiert.

Recht auf Unterstützung

Bei der Jubiläumsveranstaltung im Münchner Feierwerk wurde schnell deutlich, dass es hier nicht nur um Zahlen geht, sondern um eine Haltung. „Unsere Arbeit steht für eine lange Zeit fachlich fundierter, verlässlicher Unterstützung“, sagte Olaf Ostermann, Abteilungsleiter für niedrigschwellige Hilfen bei Condrobs. Diese Haltung zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Einrichtungen: Jeder Mensch hat das Recht auf Unterstützung, auch wenn er weiterhin konsumiert.

Mutig und menschlich

Der Bezirk Oberbayern, seit Jahrzehnten Partner von Condrobs, teilt diese Sicht. „Diese vier Einrichtungen sind weit mehr als soziale Angebote“, sagte der stellvertretende Bezirkstagspräsident Michael Asam in seinem Grußwort. „Diese Einrichtungen sind Orte, an denen sich Menschen ohne Vorbehalte angenommen fühlen und Wertschätzung erfahren.“ Besonders hob er das Suprima Wohnheim hervor, das Menschen auch dann aufnimmt, wenn sie weiterhin Suchtmittel konsumieren. „Hilfe fängt hier nicht erst mit Abstinenz an, sondern genau dort, wo die Menschen gerade stehen. Diese Haltung ist mutig und menschlich. Sie erreicht diejenigen, die sonst durch alle Raster fallen.“

Auch der Spendenladen sei ein gelungenes Beispiel für soziale Teilhabe, so Asam: „Er verbindet Nachhaltigkeit mit Beschäftigung. Menschen in schwierigen Lebenslagen finden dort Struktur und das Gefühl, gebraucht zu werden.“ Der Bezirk werde diese Arbeit auch in Zukunft unterstützen, betonte Asam, „denn sie ist fachlich am Puls der Zeit, menschlich jedoch weit darüber hinaus“.

Niedrigschwellige Hilfen: Eine Verpflichtung für die Stadt

Unterstützung kommt auch von der Stadt München. „Niedrigschwellige Hilfen für drogenkonsumierende Menschen sind keine Selbstverständlichkeit“, sagte die 3. Bürgermeisterin Verena Dietl. „Für unsere Stadt sind sie aber eine Verpflichtung.“ Dietl erinnerte daran, dass Suchthilfe lange Zeit vor allem auf Abstinenz abzielte. Dank der Beharrlichkeit von Condrobs ist es gelungen, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Dietl sprach sich dafür aus, Drogenkonsumräume, Drug-Checking und stabile Finanzierungsstrukturen auch in Zeiten knapper Kassen weiter voranzutreiben.

„Unsere Einrichtungen sind Orte, an denen Beziehungen wachsen“

Wie politisch relevant die Arbeit bis heute bleibt, machte Condrobs-Vorständin Katrin Bahr deutlich. „Diese vier Einrichtungen verkörpern, wofür Condrobs steht: Akzeptanz, Würde, Teilhabe, gelebte Solidarität und Inklusion“, sagte sie. „Unsere niedrigschwellige, akzeptierende Drogenarbeit ist immer auch ein politischer Einsatz: für die Belange unserer Klientel als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft.“ Bahr erinnerte daran, dass Condrobs schon 1990 den Mut hatte, Angebote ausdrücklich für konsumierende und HIV-positive Menschen zu schaffen – ein Schritt, der damals noch auf gesellschaftliche Widerstände stieß. „Unsere Einrichtungen sind Orte, an denen Beziehungen wachsen, Vertrauen entsteht und Hilfe ankommt.“

Wandel und neue Herausforderungen

Wie wichtig das bis heute ist, zeigte der Fachvortrag von Prof. Dr. Susann Hößelbarth von der Hochschule Coburg. Sie skizzierte die Entwicklung der Suchthilfe, die von der offenen Drogenszene der 1980er Jahre bis hin zu einer heute professionell aufgestellten Hilfe reicht. „Mit ihrem lebensweltorientierten Ansatz gelingt es der akzeptierenden Drogenarbeit, Menschen zu erreichen, die sonst aus dem Hilfesystem herausfallen“, erklärte sie. Die Professorin wies auf neue Herausforderungen hin: steigende psychische Belastungen, zunehmende Wohnungslosigkeit, gefährlicher Mischkonsum und synthetische Substanzen wie Fentanyl. „Drogenkonsumierende gehören zu den Menschen mit dem höchsten Risiko sozialer Ausgrenzung. Und soziale Ausgrenzung verstärkt wiederum problematischen Konsum.“ Ihre Schlussfolgerung: „Akzeptanz ist kein Verzicht auf Anspruch, sondern die Grundlage professioneller Drogenhilfe.“

Die Anfänge: Selbsthilfe wird System

Ein Blick auf die Anfänge der Arbeit warf Klaus Fuhrmann, Gründer des Kontaktladens off+. In den 1980er-Jahren, erzählte er, sei Hilfe für konsumierende Menschen oft verweigert worden: „Man musste erst abstürzen, bevor man Hilfe bekam. Wir wollten einfach da sein, ohne Vorurteile, ohne Zeigefinger.“ Aus Selbsthilfegruppen entwickelte sich schließlich ein professionelles Angebot. Mit der Integration in Condrobs kam die nötige Stabilität, um dauerhaft wirksam zu sein. Heute sei die akzeptierende Drogenhilfe nach einem langen Weg fest im Hilfesystem verankert, so Fuhrmann. „Entscheidend war immer, nicht nur Einzelfallhilfe zu leisten, sondern auch zu hinterfragen, wie der gesellschaftliche oder ordnungspolitische Umgang die Probleme vergrößert und politisch entsprechend gegenzusteuern.“ Das bleibe bis heute Kern akzeptierender Arbeit.

„Hilfe fängt bei uns dort an, wo andere aufhören.“

Wie diese Haltung heute gelebt wird, zeigte sich in der anschließenden Podiumsdiskussion. „Kaffee ausschenken kann jede*r.“, sagte Vanessa Cramer, Leiterin des Kontaktladens limit und des Spendenladens. „Doch erst wenn Struktur und Beziehung da sind, können Menschen wirklich über ihren Konsum nachdenken.“ Patrick Jantscher vom Suprima Wohnheim ergänzte: „Hilfe fängt bei uns dort an, wo andere aufhören. Das ist niedrigschwellig – und das ist unsere Stärke.“ Thekla Andresen, heute Genesungsbegleiterin und früher selbst Klientin, schilderte eindrücklich aus eigener Erfahrung: „Zum ersten Mal war Ehrlichkeit kein Nachteil. Ich habe mich wirklich angenommen gefühlt.“

90 Jahre Vertrauen, Würde und Menschlichkeit

So schloss sich an diesem Tag der Kreis: von den Anfängen der akzeptierenden Arbeit über politische Unterstützung bis hin zu ganz persönlichen Geschichten. 90 Jahre niedrigschwellige, akzeptierende Suchthilfe, das sind 90 Jahre Vertrauen, Würde und Menschlichkeit. Oder, wie Prof. Hößelbarth es formulierte: „Soziale Integration ist der Dreh- und Angelpunkt für Veränderung. Niedrigschwellige Angebote sind die Brücke dorthin.“

Eine Brücke, die seit Jahrzehnten hält – und die München auch weiterhin dringend braucht.

 

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Titelfoto v.l.: Vanessa Cramer, Prof. Dr. Susann Hößelbarth, Katrin Bahr, Olaf Ostermann, Karin Wiggenhauser, Klaus Fuhrmann, Patrick Jantscher, Michael Asam, Elena Ruggeri, Thekla Andresen
Foto 1 v.l.: Vanessa Cramer, Verena Dietl, Olaf Ostermann, Katrin Bahr, Patrick Jantscher, Elena Ruggeri
Foto 2: Impression
Foto 3: Publikum im Feierwerk
Foto 4 v.l.: Die Stadträtin Barbara Likus, Stadtrat Stefan Jagel, Stadtrat Thomas Niederbühl, Stadtrat und Condrobs-Aufsichtsrat David Süß, Condrobs-Aufsichtsrat Rudolf Stummvoll
Foto 5: Olaf Ostermann
Foto 6: Michael Asam
Foto 7: Verena Dietl
Foto 8: Katrin Bahr
Foto 9: Publikum im Feierwerk
Foto 10: Prof. Dr. Susann Hößelbarth
Foto 11: Klaus Fuhrmann
Foto 12: Podiumsdiskussion
Foto 13: Thekla Andresen
Foto 14: Patrick Jantscher
Foto 15: Elena Ruggeri
Foto 16: Vanessa Cramer

Fotos: Florian Freund (www.florian-freund.de)

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