50 Geschichten: Der Elternbrief

17. Januar 2022

Dieser Brief erreichte 2018 den Einrichtungsleiter überregionaler Ambulanter Erziehungshilfen | HaLT. Wir haben die Erlaubnis von Marias Eltern, ihn zu veröffentlichen.

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Liebe Frau Müller [Anm. d. Red.: Name geändert], liebe Miteltern,

morgen wird es in der Schule wohl ein Gesprächsthema geben: Die Party am Freitag und wie geht es Maria (Name anonymisiert).

Da das Vorgefallene andere genauso treffen könnte und viel zu gravierend war, als es unter den Teppich zu kehren, möchten wir Euch die Tatsachen aus erster Hand geben, damit es nicht zu Gerüchten oder Fehlinformationen kommt.

Maria war am Freitag mit anderen Jugendlichen, die teils aus ihrer Klasse waren, auf einer Privatparty. Vereinbart war, dass sie um Mitternacht von uns abgeholt wird.

Gegen 21:30 Uhr rief uns ein Junge von Marias Handy an, dass es ihr nicht gut geht, sie habe getrunken und ob man sie abholen könnte. Dort angekommen, musste ich Maria bewusstlos in einem Zimmer liegend vorfinden. Vier Jungs waren nötig um sie nach unten und ins Auto zu tragen. Zuhause konnte eine benachbarte Ärztin, die gerade von ihrem Bereitschaftsdienst gekommen ist, Maria sofort untersuchen. Umgehend verständigte die Ärztin wegen ihres schlechten Zustands und dem Fehlen jeglicher Schutzreaktionen den Rettungsdienst und Notarzt.

Wegen dem Verdacht auf ein Hirntrauma (ungleiche Pupillenreaktion) erfolgte die Einweisung auf die Intensivstation von Großhadern. Ein CT konnte zum Glück ein Hirntrauma ausschließen. Zwischenzeitlich hat sich der Zustand allerdings weiter verschlechtert. Maria wurde intubiert und künstlich beatmet, die Körpertemperatur war auf 35 Grad gefallen. Wegen Personalmangel auf der Station wurde Maria noch in der Nacht mit einem Intensivtransport in eine andere Klinik gebracht. Erst im Laufe des nächsten Vormittages wurde Maria ansprechbar und die künstliche Beatmung konnte beendet werden, am Nachmittag wurde Maria auf eine normale Station verlegt.

Dank der intensivmedizinischen Versorgung musste Maria keine der üblichen Nachwehen eines Vollrausches durchleben. Sie hat sich an viele Teile des Abends erinnert, dann erst wieder als sie auf der Intensivstation aufwachte. Deshalb fällt es ihr vielleicht auch schwer, zu realisieren, was in dieser Zeit mit ihr passiert ist.

Von den Ängsten und Bangen, den intensiven Bemühungen der Krankenhäuser und der Tatsache, dass es sehr knapp war, hat sie ja nichts mitbekommen.

Aus den geführten Gesprächen haben wir dann erfahren, dass es gar keine Geburtstagsfeier war, die Eltern nicht da waren, dass Alkohol mitgebracht/besorgt wurde und sie mit der Absicht, Alkohol zu trinken, hingegangen ist. Sie hätte nicht gewusst, das Vodka Schnaps ist und sie habe doch gar nicht soviel (im Sinne von Flüssigkeitsmenge) getrunken. Davon, dass ihr auf der Party die vollgekotzten Kleider komplett ausgezogen und neue angezogen wurden, hätte sie auch nichts mehr mitbekommen.

Im Gespräch mit einem Suchtberater von Condrobs, das vor der Entlassung obligatorisch war, wurden wir darin bestätigt, dass es nicht möglich ist, die Kinder davor zu bewahren, harten Alkohol zu beschaffen. Irgendwo ist immer ein volljähriger Bekannter oder der Vorratsschrank. Einzig die Information, was alles passieren kann, wie Alkohol wirkt und wie mit Alkohol in unserer Gesellschaft umgegangen werden sollte, kann unsere Kinder vor solch gesundheitsgefährdenden Situationen bewahren.

Hätte der ältere Jugendliche (16?), der wohl später zur Party dazugekommen ist, nicht das Verantwortungsgefühl gehabt, Hilfe zu holen, wäre die Sache eventuell noch viel schrecklicher ausgegangen. Ohne die rechtzeitige intensivmedizinische Versorgung hätte Maria den vereinbarten Abholzeitpunkt vielleicht nicht mehr erlebt. Es wäre sinnvoll, die Kinder darauf zu sensibilisieren, dass bei Bewusstlosigkeit immer der Notarzt gerufen werden muss. Leider hat der Junge mir seinen Namen aus vermeintlichem Selbstschutz nicht gesagt, vielleicht kann unser großer Dank aber auf diesem Weg an ihn weitergegeben werden.

Vielleicht kann unsere Erfahrung als warnendes Exempel gesehen werden, damit die Kids in Zukunft mit einem anderen Bewusstsein feiern.

Den Brief haben wir mit Marias ausdrücklichem Einverständnis verfasst und verschickt. Sie hat mit dem Suchtberater vereinbart, offen mit der Sache umzugehen und ihre Freunde aufzuklären.

Liebe Grüße,

Marias Eltern

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