Kinder und Jugendliche in der Pandemie stärken

2. Mai 2021

Positionspapier der ARGE Freie München

Die Corona-Pandemie ist nach wie vor das beherrschende Thema. Eine große Gruppe, die mit zu den besonders Leidtragenden gehört, sind Kinder und Jugendliche. Soziale Interaktion, gemeinsames Lernen, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Einbeziehung in Entscheidungsprozesse wird ihnen weitestgehend verwehrt. Gemeinsam mit den Trägern der Jugendhilfe München hat Condrobs ein Positionspapier zur Situation von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie erstellt, das klare Forderungen enthält.
Bereits der erste Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie 2020, aber auch alle weiteren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung sowie die fehlende zeitliche Perspektive wirken sich auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen äußerst negativ aus und belasten diese mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch über die Dauer der Pandemie hinaus. Die Münchner Träger der Bildungs- und Jugendhilfemaßnahmen sind gemeinsam mit dem Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München unmittelbar dafür verantwortlich, das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen und zu fördern. Mit großer Sorge sehen wir die hochbelastete Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie.

Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen

Junge Menschen befinden sich in körperlicher, psychischer, sozialer und kognitiver Entwicklung. Sie brauchen für ein gesundes Aufwachsen angemessene Bedingungen.
Viele notwendige Entwicklungsschritte in der Pubertät sind nur mit der Peergroup zu meistern. Die durchschnittliche Pubertät dauert rund vier bis fünf Jahre. Durch die inzwischen ein Jahr andauernden Maßnahmen haben die Jugendlichen somit 20 bis 25 Prozent an Entwicklungsmöglichkeiten in dieser wichtigen Lebensphase weitgehend verloren.
Diese beispielhaft aufgeführten eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten behindern die Entwicklung mit allen negativen Folgen auch für das spätere Erwachsenenleben. Kinder und Jugendliche brauchen die Peergroup, um ihre Entwicklungsaufgaben zu meistern: dazu gehören Ablösungsprozesse aus dem Elternhaus, Prozesse der Verselbstständigung und Selbstpositionierung, Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und Identitätsfindung.
Diese entwicklungsbedingten Bedürfnisse spielten jedoch von Beginn der Pandemie an kaum eine Rolle, sie wurden kaum berücksichtigt und ernst genommen. Es gibt mittlerweile viele Studien, die auf die negativen Folgen (akut und langfristig) für Kinder und Jugendliche hinweisen.

Die wissenschaftlichen Studien sind erschütternd

Neueste Forschungsergebnisse (vgl. bspw. Copsy-Studie) können auch mit den Daten aus Langzeitstudien1 zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wie der Bella-Studie2 verglichen werden.
Zwei Drittel der befragten Kinder und Jugendlichen geben dort an, durch die Corona Pandemie hoch belastet zu sein. Während vor der Pandemie noch 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen angegeben hatten, nur eine geringe gesundheitsbezogene Lebensqualität zu haben, ist dieser Wert am Ende des Jahres 2020 auf 40 Prozent angestiegen.
Ebenso zeigt sich ein signifikanter Anstieg bei Gesundheitsproblemen (Stand März 2021: ca. 20 Prozent) und erhöhtem Angstniveau (Stand März 2021: ca. 25 Prozent). Auch die Umfrage des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) zeigt für Deutschland, wie sich die Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirkt.
Demnach fühlen sich mehr als 70 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen durch die Corona-Krise seelisch belastet. Stress, Angst und Depressionen haben zugenommen. Das Risiko für psychische Auffälligkeiten hat sich fast verdoppelt.
Die Rückmeldungen der Kinderkliniken, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinderärzt*innen, Psychosomatik, Psychotherapie und der operativen Jugendhilfe schildern eine deutliche Zunahme und Zuspitzung an psychischen Belastungen wie Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Suizidgefährdungen, deutliche Verschlimmerungen bei Essstörungen, exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum und auffallend steigende Aggressionen unter den Jugendlichen.

Heranwachsen ist auch eine Phase von Lernen und der Aneignung von ganzheitlicher Bildung

Die „Kollateralschäden“ der Pandemiemaßnahmen werden immer größer. Die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen, insbesondere Jugendfreizeiteinrichtungen, kulturpädagogische Angebote, außerschulische Bildung, Kindertagesstätten und Sportmöglichkeiten, zieht in vielen Fällen Beeinträchtigungen wie Vereinsamung, Abbruch von Freundschaften, fehlende Vertrauenspersonen, Sozialisationsdefizite, ungünstige Auswirkungen auf die psychosoziale und motorische Entwicklung oder Kindeswohlgefährdung mit der Gefahr unentdeckter häuslicher Vernachlässigung und Gewalt nach sich.
Auf die psychosozialen Belastungen muss gleichermaßen mit Angeboten der außerschulischen Bildung reagiert werden, weil sie den nötigen Raum zur Kompensation und Verarbeitung der Krise bereitstellen, Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen und die Persönlichkeits-entwicklung als Ganzes stärken. Dies ist auch in einer guten Balance mit den wichtigen Anforderungen des Gesundheitsschutzes gestaltbar.
Das nahezu vollständige Fehlen von kulturellen und künstlerischen Betätigungs- und Ausdrucksmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche können wir als Gesellschaft so nicht länger akzeptieren. Gerade in künstlerischen Gestaltungsprozessen können Kinder und Jugendliche sich selbst als wirksam erfahren, sich mit Diversität und Unterschieden konstruktiv auseinandersetzen und die essentielle Erfahrung machen, was es bedeutet, als Individuum etwas zu einer lebendigen Demokratie beitragen zu können. Das dauerhafte Fehlen dieser Möglichkeiten hat nicht nur massive Auswirkungen auf die Entwicklungen jedes Einzelnen, sondern auch auf unsere Gesellschaft, die neben Corona noch andere große Herausforderungen zu meistern hat, z. B. die aktive Gestaltung unserer demokratischen Grundordnung, Diversität, Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit etc. Um all diese Herausforderungen zu bewältigen, brauchen wir als Gesellschaft Menschen, die gelernt haben mit Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und Überforderung umzugehen, Krisen kreativ zu meistern und das gesellschaftlich-kulturelle Leben zukunftsorientiert zu gestalten.
Der eingeschränkte Schulunterricht führt zu einem Bildungsdefizit und zu Bildungsungerechtigkeit mit besonderer Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch schwächeren Familien und Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedarfen.
Um weitere Entwicklungshemmungen und -schädigungen zu vermeiden, muss dringend gehandelt werden. Es ist unverzichtbar, die anhaltenden Kontakt- und Bildungseinschränkungen für Kinder und Jugendliche zu lockern. Kinder und Jugendliche brauchen wieder vielfältige Lern- und Entfaltungsmöglichkeiten und den Kontakt zu Gleichaltrigen.

Kinder und Jugendliche brauchen für eine gesunde Entwicklung Gleichaltrige, Freiräume und die Möglichkeit zur Teilhabe

Kinder und Jugendliche wollen in der Pandemie weder als Virenschleudern noch ausschließlich in ihrer Rolle als Schüler*innen wahrgenommen werden. Das sind einige der Erkenntnisse, die bereits nach dem ersten Lockdown im ersten Halbjahr 2020 in mehreren Studien publiziert worden sind. Die Maßnahmen in der Pandemie zeigen aber deutlich, welches Verständnis von Kindern und Jugendlichen vorherrscht: Kinder und Jugendliche sind schwer kontrollierbar und damit ein Risiko für das Infektionsgeschehen. Der jungen Generation wird nicht zugetraut, gesellschaftliche Verantwortung aktiv zu übernehmen. Stattdessen werden ihr präventiv jegliche Handlungsspielräume entzogen. Partizipation und gesellschaftliches Engagement sind seit über einem Jahr kaum möglich. Anstatt Kinder und Jugendliche in die Entwicklung von Lösungen für die Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft einzubeziehen, werden ihnen Möglichkeiten der Teilhabe vorenthalten.
Es braucht dringend eine Verfahrensänderung und neue Beteiligungsformate, um das Vertrauen junger Menschen in gesellschaftliche und politische Institutionen nicht zu verspielen und nachhaltig zu gefährden.

Wir fordern den Freistaat Bayern auf:

  • Die Kontaktbeschränkung auf zwei Haushalte für Kinder und Jugendliche – zumindest im Freien – aufzuheben, bzw. auf zumindest 5 Personen zu erweitern. Alle jungen Menschen müssen sich draußen in kleinen Gruppen treffen dürfen, um ihren vielfältigen Interessen nachgehen zu können (nicht nur unter 14-Jährige zum gemeinsamen Sport); dabei gilt es im Umgang mit dieser Regelung insbesondere die Polizei dahingehend zu sensibilisieren, dass die Bedarfe junger Menschen nach sozialen Kontakten im öffentlichen Raum anerkannt und im Zweifelsfall eher weiter als enger ausgelegt werden.
  • Die Schulen müssen, wie im Infektionsschutzgesetz bundesweit festgeschrieben, auch in Bayern bis zu einer 7-Tage-Inzidenz von 165 für den Präsenzunterricht geöffnet bleiben und je nach räumlichen Voraussetzungen zumindest Wechselunterricht für alle Jahrgangsstufen anbieten. Auch Unterricht im Freien sollte je nach den örtlichen Gegebenheiten angeboten werden.
  • Bildung ist mehr als Schule, deswegen müssen außerschulische Bildungsangebote mit Hygienekonzept und Abstandsregeln möglich bleiben. Das gilt sowohl für die offene Kinder- und Jugendarbeit als auch für die Jugendverbandsarbeit, die Kulturarbeit und den Vereinssport.
  • Es braucht ein „Testen und Treffen“, das für junge Menschen wieder Begegnung, Ausgleich und gemeinsame Freizeiterlebnisse möglich macht. Hierfür müssen kostenlose Tests zur Verfügung gestellt und Testergebnisse, beispielsweise aus schulischen Testungen, tagesaktuell akzeptiert werden. Konkrete Ansätze in anderen Bundesländern sollten hinsichtlich der Möglichkeiten Veranstaltungen für junge Menschen durchzuführen, geprüft werden – dazu können die Kommunen ganz konkrete Ideen entwickeln und umsetzen.
  • Junge Menschen sind als Expert*innen in eigener Sache konsequent einzubeziehen. Die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an einer einmaligen „Kinder- und Jugendkonferenz“ der Bayerischen Staatsregierung reicht dafür nicht aus. Es braucht einen regelmäßigen Austausch auf allen Ebenen und in allen Bereichen.
Lesen Sie hierzu auch den SZ-Artikel „Allein gelassen im Kinderzimmer“. Verbände fordern, jungen Menschen trotz Corona mehr soziale Kontakte zu ermöglichen“, erschienen am 3. Mai 2021.

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