Am 10. Juni 2024 fand der Fachtag Jugendhilfe in der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern unter dem Motto „Aufwachsen im Krisenmodus – Anforderungen an Hilfenetzwerke für junge Menschen“ statt, organisiert von Condrobs. Die Veranstaltung zog zahlreiche Fachleute und Interessierte aus verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe, der Sozialen Arbeit und Politik an.
„Wir erleben spannende Zeiten“
Den Auftakt machte Siegfried Gift, Abteilungsleiter JugendSucht- und Familienhilfen bei Condrobs, der die Teilnehmenden herzlich begrüßte und auf die aktuelle gesellschaftliche Lage hinwies: „Wir erleben spannende Zeiten. Wir haben gerade erst eine Pandemie hinter uns gelassen, haben eine Energiekrise, die uns gedroht hat, überstanden. Im Moment trocknen gerade Keller aus. Und die Politik, die Medien und die Bevölkerung sprechen darüber, wann Deutschland endlich kriegstüchtig ist.“
Reifere Generationen, so Gift, wissen, dass es meist weniger hart kommt, als es den Anschein hat. Junge Menschen, die während der Corona-Zeit ihr Sozial- und Schulleben vor dem PC verbringen mussten, hören jedoch all die Probleme um sie herum und sehen die Darstellung in sozialen Netzwerken, stellen Fragen und fordern geeignete Unterstützung von Gesellschaft und Hilfesystem. Der Fachtag sollte dazu dienen, dieser Herausforderung zu begegnen und anregen, Bestehendes zu reformieren.
Positiv für die Gesellschaft
Verena Dietl, 3. Bürgermeisterin Münchens und studierte Sozialpädagogin, hob in ihrem Grußwort die Bedeutung der Jugendhilfe hervor: „Seit Jahrzehnten unterstützt Condrobs durch engagierte Arbeit junge Menschen und deren Familien. Aufgrund Ihrer Bekanntheit und Ihres guten Rufs wenden sich hilfesuchende Familien an Sie und es gelingt Ihnen auch, Vorurteile gegenüber der Jugendhilfe abzubauen, die oftmals vorherrschen.“
Dietl betonte, dass das umfangreiche Angebot von Condrobs, von beratenden Aufgaben bis hin zu Hilfen in akuten Krisensituationen, ein „positiver Beitrag für die Gesellschaft und das soziale Gleichgewicht unserer Stadt“ sei.
Präventiv und nachhaltig wirken
Rainer Schneider, stellvertretender Bezirkstagspräsident des Bezirks Oberbayern, stellte die Herausforderungen und Bedürfnisse an der Schnittstelle verschiedener Hilfesysteme heraus. Er betonte die Notwendigkeit frühzeitiger und gut abgestimmter Unterstützungsangebote, um präventiv und nachhaltig wirken zu können.
Für die Arbeit von Condrobs fand Schneider lobende Worte: „Condrobs leistet in diesem Bereich hervorragende Arbeit, nicht nur in der Suchthilfe, denn sie haben insgesamt in den letzten 53 Jahren vielen, vielen Menschen das Leben gerettet.“
Hilfenetz auf Augenhöhe
Dorothee Schiwy, berufsmäßige Stadträtin und Sozialreferentin der Landeshauptstadt München, sprach in ihrem fachlichen Impulsvortrag über die veränderten Konsummuster der Jugendlichen in München und die daraus resultierenden Herausforderungen. Sie betonte, dass der Drogenkonsum facettenreicher geworden sei und die Bereitschaft der jungen Menschen, verschiedene Substanzen auszuprobieren, gestiegen sei. Besonders erwähnte sie den massiven Anstieg an Jugendlichen, die Opioide und intravenös Heroin konsumieren, und nannte erschreckende Zahlen: „2021 waren es vier Personen, die in der Heckscher Klinik aus diesem Klientel aufgenommen wurden. 2022 waren es sieben Personen und 2023 bis jetzt waren es 19 Personen.“
Schiwy betonte die Notwendigkeit, geeignete Jugendhilfeeinrichtungen zu schaffen, die sowohl pädagogische als auch medizinische Expertise vereinen. Abschließend lobte sie die langjährige und innovative Arbeit von Condrobs und bedankte sich für die gute Zusammenarbeit mit der Landeshauptstadt München: „Condrobs hat ein richtungsweisendes und innovatives Hilfenetz geschaffen, das sich stetig weiterentwickelt und immer auf Augenhöhe mit den Betroffenen arbeitet.“
Neue Konzepte
Alexander Eberth, Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender von Condrobs, erinnerte an die Gründungswerte von Condrobs und die fortwährende Mission, Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen zu helfen. Dies beinhaltete stets, dass nicht die Jugendlichen sich einem Konzept unterordnen müssten, sondern dass die Konzepte sich den Bedarfen der Jugendlichen anpassen sollten: „Unser Gedanke war und ist bis heute: wenn Hilfebedarf besteht und die Angebote nicht ausreichen, müssen wir neue, geeignete Konzepte entwickeln, um zusammen mit den Jugendlichen einen Weg in eine selbstbestimmte Zukunft zu gehen.“
Versorgung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher
Der erste Fachvortrag des Tages wurde von Priv.-Doz. Dr. med. Katharina Bühren gehalten, die seit dem 1. März 2022 Ärztliche Direktorin des kbo-Heckscher-Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie ist.
Unter dem Titel „Aktuelle Herausforderung in der Versorgung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher“ schilderte Dr. Bühren die hohe Belastung der Notaufnahmen und die Herausforderungen durch die gestiegene Anzahl von Notfällen: „Wir haben ein sehr, sehr hohes Notfallaufkommen in der Heckscher Klinik und grundsätzlich an den Standorten viele Anmeldungen für die stationäre, teilstationäre, aber auch ambulante Versorgung.“ Sie erklärte, dass die Polizei häufig Einweisungen aufgrund von Fremd- und Eigenaggression durchführt: „Was auch so eine, wie wir finden, schon Neuerung ist. Wir bekommen viele Einweisungen über die Polizei.“
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wurden hervorgehoben: „Die psychische Belastung ist anhaltend hoch. Und dann kann man natürlich diskutieren: ist das jetzt denn wirklich nur Corona?“ Sie stellte fest, dass die Belastungen je nach sozialem Hintergrund und Schulform variieren: „Gerade bei den Förder- und Sonderschulen ist auch die psychische Belastung insgesamt deutlich höher ist.“
Dr. Bühren betonte die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachkräften und Institutionen: „Ich glaube, und das ist auch ein ganz wichtiger Punkt, wir müssen Netzwerken, wir müssen gut kooperieren, wir müssen voneinander wissen, was wir tun können und was nicht.“
Die Suchtproblematik bei Jugendlichen wurde ausführlich thematisiert, einschließlich der steigenden Zahlen von Suchtmittelmissbrauch und den Herausforderungen bei der Behandlung. Dr. Bühren äußerte sich kritisch zur Legalisierung von Cannabis und den potenziellen Auswirkungen auf Jugendliche: „Die Konsumquoten haben sich einfach erhöht. In den USA kann man es ganz gut sehen, weil es nur in einzelnen Bundesländern legalisiert wurde und man dann besser vergleichen kann.“
Cannabiskonsumstörungen und deren Behandlung
Nach einer kurzen Pause setzte Dipl.-Psych. Andreas Gantner, Geschäftsführer des Therapieladen e. V. Berlin, mit einem Vortrag über therapeutische Hilfen für junge Menschen mit Cannabiskonsumstörungen fort.
Gantner erläuterte die Entwicklung des Cannabiskonsums und dessen Folgen anhand von Daten aus verschiedenen Studien. Seit 2014 haben Cannabiskonsumierende die Opioidabhängigen in den Suchthilfeeinrichtungen abgelöst. Die Zahlen aus einer Krankenhausstatistik-Studie zeigten einen deutlichen Anstieg der Einweisungsquoten für cannabisbezogene Gesundheitsprobleme und Straftaten. Besonders auffällig war der Anstieg in Bayern im Vergleich zu Berlin, obwohl die Konsumquoten in Berlin noch höher sind.
Er präsentierte ebenso nationale Daten, insbesondere aus Kanada und den USA, die zeigen, dass die Legalisierung von Cannabis nicht zu einem signifikanten Anstieg des Konsums bei Minderjährigen geführt hat. Gantner betonte, dass die Art und Weise der Regulierung entscheidend sei, um negative Auswirkungen zu minimieren.
Gantner stellte verschiedene spezifische Programme vor, die in den letzten 20 Jahren entwickelt wurden, um Cannabiskonsumierende zu unterstützen. Er hob hervor, dass Programme, die Familien einbeziehen, besonders effektiv sind, um Jugendliche frühzeitig zu erreichen.
Zum Abschluss betonte Gantner die Notwendigkeit einer stärkeren Suchprävention und Frühintervention sowie die Verbesserung der Ressourcen in der kommunalen und regionalen Suchthilfe. Er kritisierte die aktuelle Finanzlage, die eine effektive Prävention und Beratung erschwert, und forderte eine systemische Öffnung der Suchtberatung und eine engere Vernetzung mit der Jugendhilfe.
Forschungsprojekt BOJE
Jennifer Martens vom Center for Drug Research an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hielt im Anschluss an die Mittagspause einen Vortrag über das Forschungsprojekt BOJE. Das Projekt, das zwischen 2022 und 2023 durchgeführt wurde, widmete sich dem Konsum von Benzodiazepinen und Opioiden unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die nicht Teil offener Drogenszenen sind.
Martens erklärte, dass BOJE für „Benzodiazepin- und Opioidkonsum unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ steht. Sie beschrieb die zunehmende Thematisierung dieser Substanzen durch Rapper*innen Mitte der 2010er Jahre, wodurch diese in der Popkultur präsent wurden. Benzodiazepine wie Alprazolam wirken beruhigend, während Opioide wie Tilidin starke Schmerzmittel sind. Beide haben ein hohes Abhängigkeitspotenzial und Überdosierungsrisiko, besonders bei Mischkonsum.
Ein zentrales Thema war die Rolle der Popkultur, insbesondere des Raps, beim Drogenkonsum. Martens zeigte, wie bestimmte bekannte Rapper zur Normalisierung dieser Drogen beigetragen haben. Der Konsum diente oft der Alltagsbewältigung und Selbstmedikation, häufig unbemerkt und in Alltagssituationen wie zu Hause, mit Freunden oder in der Schule.
Negativen Auswirkungen des Konsums umfassten akute Probleme wie Kreislaufstörungen sowie langfristige Probleme wie Abhängigkeit und Depressionen. Viele Betroffene nahmen keine Hilfsangebote in Anspruch.
Abschließend betonte Martens, dass die Präsenz von Benzodiazepinen und Opioiden im Rap bei vielen jungen Menschen Interesse und Konsum ausgelöst hat. Sie regte eine Diskussion über die zeitgemäße Relevanz dieser Substanzen an und lud die Teilnehmer zum Austausch ein.
KI in der Sozialen Arbeit
Die Fachvortragsreihe abschließen durfte Prof. Dr. Robert Lehmann von der TH Nürnberg mit einem Vortrag über die Potenziale und Risiken von Künstlicher Intelligenz in der Sozialen Arbeit. Prof. Lehmann begann mit einer grundlegenden Einführung in die Technologie hinter Künstlicher Intelligenz (KI) und erklärte die Unterschiede zwischen schwacher und starker KI. Er betonte, dass derzeit verfügbare KIs nur spezifische Aufgaben bewältigen können und keine allgemeine menschliche Intelligenz besitzen. „Es ist nicht die starke KI, die uns zu schaffen macht, sondern die schwache KI, die uns heute schon unterstützen kann.“
Ein zentraler Teil des Vortrags widmete sich der Anwendung von KI in der Entscheidungsunterstützung und der Nutzung von Chatbots. Prof. Lehmann präsentierte mehrere Projekte, die zeigen, wie KI Fachkräfte entlasten und die Effizienz in verschiedenen Bereichen steigern kann, besonders in der Sozialarbeit. Er hob hervor, dass KI dazu beitragen kann, aktuelle Krisen zu bewältigen, ohne menschliche Arbeitsplätze überflüssig zu machen. „KI übernimmt repetitive Aufgaben, wodurch mehr Raum für unsere eigentliche Beratungs- und Therapiearbeit geschaffen wird.“
Ein weiterer Schwerpunkt lag auf den Risiken und ethischen Herausforderungen der KI. Prof. Lehmann betonte die Bedeutung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlage für den verantwortungsvollen Einsatz von KI in der sozialen Arbeit. Er erläuterte auch die Risiken durch unbewusste Vorurteile in den Trainingsdaten und wie wichtig es ist, die richtigen Muster zu erkennen. „Wir müssen immer im Blick haben, mit welchen Daten eine KI trainiert wurde, um ihre Entscheidungen richtig einordnen zu können.“
Zum Abschluss diskutierte Prof. Lehmann praktische Anwendungen von KI in der sozialen Arbeit, wie den Einsatz von Chatbots und die Entscheidungsunterstützung in komplexen Fällen, z.B. bei der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen. Er stellte klar, dass KI wertvolle Unterstützung bieten kann, die endgültige Entscheidung jedoch immer bei den menschlichen Fachkräften liegen muss.
Abschließende Plenumsdiskussion
Die abschließende Plenumsdiskussion bot allen Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Perspektiven und Erfahrungen einzubringen. Die Diskussion war geprägt von einem regen Austausch und der gemeinsamen Suche nach Lösungen. Viele Teilnehmende betonten die Notwendigkeit einer stärkeren Vernetzung und eines kontinuierlichen Dialogs.
Ein aufschlussreicher Fachtag
Zum Abschluss bedankte sich Siegfried Gift bei allen Teilnehmenden und Organisierenden für den gelungenen und aufschlussreichen Tag. „Wir haben heute wichtige Impulse erhalten und wertvolle Netzwerke geknüpft. Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam viel bewegen können“, fasste Gift den Tag zusammen.
Interessierte hatten im Anschluss die Möglichkeit, an einer Führung durch die Ohel-Jakob-Synagoge teilzunehmen, was einen schönen Ausklang des Tages bildete. Die Führung bot einen Einblick in die kulturelle und religiöse Geschichte der jüdischen Gemeinde in München.
Ein herzlicher Dank geht an alle Beteiligten, die diesen Fachtag zu einem großen Erfolg gemacht haben. Wir freuen uns auf die zukünftigen Entwicklungen und Kooperationen, die aus diesem inspirierenden Austausch hervorgehen werden.