Etablierung eines bayernweiten Netzwerks von Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung

17. September 2023

Ärzte der Welt e. V. und Condrobs e. V. fordern den Aufbau und die Finanzierung eines bayernweiten Netzwerks an Clearingstellen für Gesundheit (nach dem Vorbild der Münchner Clearingstelle Gesundheit), die Menschen ohne Krankenversicherungsschutz beraten und ihnen über einen Behandlungsfonds medizinische Versorgung ermöglichen. 

Das Positionspapier könnt Ihr unten oder im PDF-Format lesen. Darüber hinaus hat Ärzte der Welt den bayerischen Parteien im Vorfeld der Wahl sechs Wahlprüfsteine zum Thema Gesundheitsversorgung geschickt.

Der Großteil der Bevölkerung ist entweder gesetzlich oder privat krankenversichert. Zusätzlich erhalten bestimmte Bevölkerungsgruppen eine Sicherung ihrer medizinischen Versorgung durch Sozialleistungen. Leider haben Personen, die nicht über eine dieser Absicherungsmöglichkeiten verfügen, faktisch keinen Zugang zu bezahlbaren Gesundheitsleistungen. Schätzungen zufolge leben in Deutschland mehrere Hunderttausend Menschen ohne Krankenversicherung, darunter auch Zehntausende in Bayern. Diese Personen haben daher keine Chance zur medizinischen Versorgung. Das deutsche Gesundheitssystem mag zwar hochentwickelt sein, ist jedoch auch sehr kostspielig, was dazu führt, dass sich die meisten Menschen die Gesundheitsversorgung aus eigener Tasche nicht leisten können.

Argumente für die Einrichtung von Clearingstellen mit Behandlungsfonds

1. Zugang zu medizinischer Versorgung für alle: Um dem drängenden Problem entgegenzuwirken, wurden in einigen Bundesländern und Kommunen spezielle Clearingstellen eingerichtet, die den Betroffenen Beratung und Unterstützung bieten. Durch diese Clearingstellen erhalten nicht versicherte Personen die Möglichkeit, eine Integration in eine Krankenversicherung oder andere Sozialsysteme zu klären. Innerhalb des oft langwierigen Clearingprozesses ist es essentiell, dass der Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung durch einen Behandlungsfonds oder das Konzept des anonymen Behandlungsscheins sichergestellt wird. Dies gewährleistet eine schnelle, bedarfsgerechte Versorgung, selbst wenn eine nachhaltige Lösung zur Aufnahme in eine Krankenversicherung noch nicht abschließend geklärt ist. Diese Maßnahmen sind ein wichtiger Schritt, um die Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung zu verbessern und ihnen die dringend benötigte medizinische Betreuung zu ermöglichen.

2. Erfüllung internationaler Verpflichtungen: Mit der Unterzeichnung des UN-Sozialpakts, der UN- Kinder-, UN- Frauen- und UN- Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland völkerrechtlich verbindlich verpflichtet, einen diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle Menschen im Land sicherzustellen. Die Einrichtung von Clearingstellen und die Bereitstellung finanzieller Mittel auf kommunaler und auf Landesebene sind ein Schritt in Richtung Erfüllung dieser Verpflichtungen, bis strukturelle Veränderungen wirksam werden.

3. Chronifizierung von Krankheiten reduzieren und Kosten senken: Das Fehlen einer Krankenversicherung führt bei Patient*innen zu deutlich höheren Chronifizierungsraten und häufigeren Notfallversorgungen, was zu steigenden Ausgaben im Gesundheitssystem führt. Clearingstellen könnten dazu beitragen, diese Kosten zu senken, indem sie über den Behandlungsfonds die Finanzierung sichern und damit den Zugang zu präventiver und regelmäßiger medizinischer Versorgung herstellen, wodurch chronische Erkrankungen frühzeitig behandelt werden können.

4. Bessere Versorgung für Schwangere und Kinder: Auch werdende Mütter und Kinder, deren Eltern keine Krankenversicherung haben, sind betroffen und haben keinen ausreichenden Zugang zu wichtigen Vorsorgeuntersuchungen und (zahn-)medizinischer Versorgung. Clearingstellen könnten diese Lücke schließen und sicherstellen, dass Schwangere und Kinder schnellstmöglich ins Regelsystem integriert werden und die notwendige medizinische Behandlung erhalten.

5. Ergänzung und Entlastung zivilgesellschaftlicher, ehrenamtlicher Initiativen: Ehrenamtliche Initiativen wie Ärzte der Welt und andere Organisationen können das Regelsystem, zu dem die Betroffenen keinen Zugang haben, nicht ersetzen. Clearingstellen mit Behandlungsfonds ergänzen und entlasten dieses ehrenamtliche medizinische Versorgungsangebot und bieten durch die Herstellung von Leistungsansprüchen und Finanzierung von medizinischen Behandlungen eine professionellere und breitere Basis, um Menschen ohne Krankenversicherung zu unterstützen.

6. Flächendeckende Gesundheitsprävention: Das Fehlen einer Krankenversicherung führt auch dazu, dass Menschen keine präventiven Vorsorgeleistungen und Impfschutz erhalten. Dadurch wird u.a. die Eindämmung von Infektionskrankheiten erschwert. Durch einen Gesundheitsfonds können mehr Menschen Zugang zu präventiven Gesundheitsmaßnahmen erhalten, was wiederum zu einem verbesserten Schutz vor Infektionskrankheiten in der Gesamtbevölkerung führen würde.

7. Best Practice – Münchner Clearingstelle Gesundheit:  Die Münchner Clearingstelle mit Behandlungsfonds bei Condrobs hat sich in einer dreijährigen Pilotphase bewährt und wurde im November 2022 durch den Stadtrat als dauerhafte Einrichtung etabliert. Ihr Hauptziel ist es, Betroffenen eine klärende Beratung für den Zugang zu Krankenversicherungen und möglichen Kostenträgern anzubieten, um eine langfristige, reguläre Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Oftmals geht es dabei um die Herstellung von Sozialversicherungs- oder Sozialleistungsansprüchen. Die Clearingstelle verwaltet zudem den Gesundheitsfonds, über den Kosten für behandlungsbedürftige Patient*innen, bei denen eine (Re-)Integration in die Krankenversicherung nicht schnell genug gelingt, finanziert werden können. Dadurch wird diesen Personen niedrigschwellig und unkompliziert medizinische Hilfe gewährt.

Das Modell der Münchner Clearingstelle könnte als erfolgreiches Beispiel für bayernweite Beratungsstellen dienen. Die eng vernetzte Beratungsarbeit mit Sozialbehörden, Krankenversicherungen, Kliniken und sozialen Einrichtungen führt in München dazu, dass jährlich 54% der Ratsuchenden in eine Krankenversicherung oder andere Sozialsysteme integriert werden können. Die Ausgaben des Gesundheitsfonds von jährlich bisher etwa 380.000, – € für medizinische Behandlung der Klient*innen sind gut investiert. Mit diesem Geld werden dringende stationäre Aufenthalte finanziert und wichtige Therapien mit Medikamenten und Hilfsmitteln gesichert. Gleichzeitig werden Dienstleister wie Notfallhilfe leistende Kliniken entlastet, was auch zu einer verbesserten Gesundheitsversorgung der Betroffenen führt.

Einführung eines Netzwerkes an Clearingstellen mit Behandlungsfonds in Bayern

Die Einführung eines Netzwerkes von Clearingstellen mit Behandlungsfonds oder die Implementierung des Konzepts eines anonymen Behandlungsscheins sind unverzichtbare Instrumente, um die Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung in Bayern zu gewährleisten. Parallel ist es ebenso entscheidend, dass politische Maßnahmen ergriffen werden, um gesetzliche Ausschlüsse und Zugangsbarrieren zur Gesundheitsversorgung zu beseitigen. Es liegt in der Verantwortung der Bundesregierung, sicherzustellen, dass sämtliche Menschen in Deutschland gemäß der ratifizierten internationalen Abkommen Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung erhalten. Solange diese Hindernisse bestehen, kann durch die Einführung weiterer Clearingstellen (mit Behandlungsfonds) die Versorgungslücke geschlossen und eine niedrigschwellige Beratung für Menschen in gesundheitlich prekären Lebenslagen angeboten werden. Das Ziel besteht darin, für die Betroffenen eine Krankenversicherung herzustellen, die soziale und rechtliche Situation zu verbessern und sie dabei zu unterstützen, ihr Menschenrecht auf Gesundheit wahrzunehmen.

In diesem Zusammenhang appellieren Condrobs als Träger der einzigen Clearingstelle in ganz Bayern und Ärzte der Welt gemeinsam mit allen unterzeichnenden Organisationen an die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung im Freistaat Bayern, ihrer Verpflichtung nachzukommen und die medizinische Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung durch staatliche Finanzmittel zu gewährleisten. Eine sinnvolle Strategie zur Reduzierung der beschriebenen Versorgungslücken sehen wir in der Einrichtung eines bayernweiten Netzwerks von Beratungsstellen mit Gesundheitsfonds nach dem Modell der Münchner Clearingstelle Gesundheit bei Condrobs. Alternativ könnte auch die Etablierung eines anonymen Behandlungsscheins nach dem Vorbild bestehender Projekte in anderen Bundesländern eine effektive Lösung darstellen. Die Beratung und die gleichzeitige Finanzierung medizinischer Versorgung von nicht versicherten Klient*innen ist für die Wirkung des Angebots von entscheidender Bedeutung.

Wir sind fest davon überzeugt, dass diese Maßnahmen einen bedeutenden Beitrag zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung in Bayern leisten und eine wichtige Verpflichtung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten darstellen. Die Implementierung eines flächendeckenden Netzwerks von Clearingstellen und die Bereitstellung eines Gesundheitsfonds ermöglichen den Zugang zu dringend benötigter medizinischer Hilfe und fördern das Ziel, bestehende Hürden im Gesundheitssystem vollständig abzubauen.

Wir fordern die politischen Entscheidungsträger*innen auf, diese dringenden Maßnahmen zu unterstützen und sicherzustellen, dass alle Menschen in Bayern, unabhängig von ihrem Versicherungsstatus, ihr Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung wahrnehmen können. Die Umsetzung dieser Lösungsansätze ist ein wichtiger Schritt, um eine inklusive und gerechte Gesundheitsversorgung für alle Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten und Ungleichheiten zu reduzieren. Durch gemeinsames Engagement und Zusammenarbeit können wir die Situation für Menschen ohne Krankenversicherung deutlich verbessern und ihnen den Zugang zu medizinischer Betreuung ermöglichen, die für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden unerlässlich ist.

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