Fachtag Streetwork im Netz

22. März 2023

Digitale Streetwork ist ein aufstrebendes, sich in der Pionierphase befindendes Arbeitsfeld, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Prinzipien der traditionellen aufsuchenden Arbeit in die digitale Welt zu übertragen, um junge Menschen – insbesondere Suchtmittelkonsumierende – dort zu erreichen, wo sie sich im digitalen Raum aufhalten, ist notwendiger denn je. Aufgrund der hohen Aktualität des Themas waren die Besucher*innen des am 20.03.2023 in der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern von Condrobs und dem Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. fdr+ veranstalteten Fachtags Streetwork im Netz gespannt, welche Erkenntnisse sie erwarten.

Eröffnung mit erfreulicher Mitteilung

Eingeleitet wurde die mit rund 200 Teilnehmer*innen gut besuchte Veranstaltung mit Grußworten.

Den Anfang machte Condrobs-Geschäftsführer Frederik Kronthaler. Er erinnerte an die Anfänge der Streetwork im Netz: „2018 gaben 87% der befragten Jugendlichen in der JIM-Studie an, dass Internet zur Lösung persönlicher Probleme zu nutzen.“ Gleichzeitig stellte man fest, dass in der Streetwork einige Zielgruppen nicht oder nur unzureichend erreicht wurden. So wurde die Idee der Streetwork im Netz geboren. Kronthaler dankte für die Unterstützungen des Projekts und äußerte die Bitte, die Finanzierung der Projektfortführung zu sichern. In Vertretung des Geschäftsführers Andreas Mäder begrüßte Condrobs-Vorständin Katrin Bahr im Namen des Fachverbands die Fachtag-Besucher*innen und gab ebenso an, dass Weiterentwicklung und -führung der digitalen Streetwork von großer Bedeutung für die Zukunft sind.

Burkhard Blienert, Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, ging in seinem Redebeitrag zunächst auf den Paradigmenwechsel der Drogenpolitik in Deutschland ein. Er betonte auch, wie wichtig es sei, dass Menschen, die eine Suchterkrankung haben, nicht stigmatisiert werden. Nur so gelinge es, dass die Hilfeangebote frühzeitiger und mehr Menschen erreichen als bislang. Streetwork im Netz sei ein Vorzeigeprojekt in der Suchthilfe, da es junge Menschen, die Suchtmittel konsumieren oder die gefährdet sind, in den digitalen Räumen, wo sie sich zunehmend aufhalten und austauschen, mit Prävention und Hilfeangeboten anspricht.

Dr. Niklas Müller vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege betonte die Notwendigkeit umfassender Hilfeangebote, um Menschen mit Suchterkrankungen zu erreichen. Er ist überzeugt vom Konzept der digitalen Streetwork, wie es Condrobs mit Streetwork im Netz umsetzt. Daher soll das Projekt mit Unterstützung des StmGP weiter etabliert und weiterentwickelt werden.

Dies wurde auch von Verena Dietl, der 3. Bürgermeisterin der Landeshauptstadt München, per Videobotschaft betont. Sie sprach davon, dass die steigende Aktivität junger Menschen in digitalen Räumen dazu führe, dass die Kommunikation mit den Jugendlichen in analogen Zusammenhängen schwerer wird. Deshalb sei es wichtig, neue Wege zu finden, um Jugendliche, besonders jene mit Hilfebedarf, zu erreichen. Dafür stehe Streetwork im Netz.

Junge Menschen im (Post-)digitalen Raum

Dr. Niels Brüggen, Leiter der Abteilung Forschung am JFF-Institut für Medienpädagogik, gab Einblicke in die Welt junger Menschen im (Post-)digitalen Raum. Er erklärte, wie Jugendliche digitale Räume nutzen und was in diesen kommuniziert wird. Die Erläuterungen der Funktion von Algorithmen und ihre Bedeutung für die Sichtbarkeit und Wahrnehmung von Inhalten sind für die digital aufsuchende Sozialarbeit wichtige Wissengrundlagen für ihren Auftritt im digitalen Raum. Sowohl Handlungsnotwendigkeiten als auch Perspektiven und Herausforderungen, die sich daraus für die pädagogische Arbeit ergeben wurden deutlich.

Die Technologie bestimme längst Kommunikation und soziale Interaktion. Junge Menschen informieren sich zunächst über soziale Netzwerke und Plattformen, Medien wie Fernsehen sind weit abgeschlagen. Dabei bestimmen Algorithmen, welche Informationen aktiv angeboten werden, diese sind von bisherigem Nutzer*innenverhalten gefüttert.

Dr. Brüggen führte aus: Es entstehe eine neue Art von Umgebung, in der junge Menschen interagieren und kommunizieren. Damit Soziale Arbeit und pädagogische Angebote im Netz sichtbar und zugänglich sind, ist ein tieferes Verständnis erforderlich, wie junge Menschen Technologie nutzen und welche Kommunikationsmuster sie haben. Um Angebote zu schaffen, die für die Zielgruppe relevant und ansprechend ist, sei Voraussetzung, ihre Motivationen und Interessen zu verstehen.

Anpassung notwendig

Zentraler Inhalt des Fachtags war die Vorstellung der Ergebnisse der Begleitforschung zum Condrobs-Projekt Streetwork im Netz.

Die Condrobs-Projektverantwortlichen Svenja Schürmann und Patrick Hey gaben Einblick in die konkrete Umsetzung der digital aufsuchenden Arbeit mit der Zielgruppe suchtmittelkonsumierender und gefährdeter junger Menschen. Die Zahlen zur Anzahl und Altersstruktur der erreichten jungen Menschen zeigen, dass das gezielte Aufsuchen junge Menschen erreicht. Zentral ist die Vermittlung in weiterführende Hilfen, die in vielen Fällen umgesetzt wurde. Die Prinzipien der Streetwork wie Niedrigschwelligkeit, Transparenz, Freiwilligkeit (um nur einige zu nennen) werden konsequent auch in der digitalen Streetwork angewendet. Die angesprochenen User*innen auf den Plattformen schätzen u.a., dass sie sich anonym an die Streetworker*innen wenden, sie sich schriftlich äußern können und im Kontakt statt Stigmatisierung Wertschätzung erfahren. Neben der Beratung und Vermittlung in Hilfen gehen die Streetworker*innen auch auf mögliche Konsumrisiken ein und geben Safer-Use-Tipps.

Die aktuelle Finanzierung des Projektes umfasst eine Stelle und läuft im Mai aus. Die immer wieder unzureichenden und befristeten Finanzierungen, mit denen das Condrobs-Projekt seit Projektbeginn 2018 kämpft, erlaubt bislang keine größeren Entwicklungsschritte. Insgesamt muss politisch anerkannt werden, dass Soziale Arbeit sich den Aufgabenfeldern im Internet, das als Lebenswelt (junger) Menschen verstanden werden muss, umfassender, strukturiert und mit der erforderlichen Ausstattung widmen muss. Die Ausstattung muss langfristige und strategische Planungen und Umsetzungen ermöglichen. Hierfür sind entsprechende Anpassungen auch in Bezug auf Förderrichtlinien nötig, die bislang längerfristige Förderungen verhindern.

Langfristige Hilfen möglich

Die Ergebnisse der Begleitforschung zum Condrobs-Projekt Streetwork im Netz präsentierte Prof. Dr. Robert Lehmann, Leiter des Instituts für E-Beratung an der TH Nürnberg zusammen mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Mara Stieler. Gleich zu Beginn machte er deutlich: „Was Condrobs macht, funktioniert.“

In der Begleitforschung zum Projekt „Streetwork im Netz“ wurden verschiedene qualitative und quantitative Methoden eingesetzt, um Potenziale für die aktive Ansprache im digitalen Raum zu erforschen. Dabei konnten Lehmann und sein Team zentrale Wirkfaktoren im Bereich der digitalen Streetwork identifizieren. Dazu gehört, die Übertragbarkeit von analogen Streetwork-Prinzipien ins Digitale, die Bedeutung der eigenen Netzidentität des Streetwork-Teams, um transparent zu sein und Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu schaffen. Weiterhin wurde die Rolle von Gatekeepern, die Zugang zu Foren und Plattformen schaffen und fördern können, erläutert.

Dargestellt wurde zudem, wie wichtig ein kontinuierliches Monitoring ist, um als Streetwork-Team aufgrund der Schnelllebigkeit des Internets immer wieder auf den neuesten Stand zu sein, wo und wie ein Zugehen auf die Zielgruppe von Streetwork im Netz sinnvoll ist. Ein sehr zentrales Ergebnis der Begleitforschung ist, dass Streetwork im Netz junge Menschen erreicht, die bislang von den bestehenden Versorgungsstrukturen nicht erreicht wurden oder die sich vom Hilfesystem abgewandt haben. Hier baut Streetwork im Netz Brücken, um frühzeitige Hilfen zu ermöglichen. Die in der Studie erhobene Zufriedenheit mit dem Angebot ergab eine hohe Zufriedenheit mit der Art der Ansprache und Beratung durch die Condrobs-Streetworker*innen. Die Empfehlung aus der Begleitstudie ist daher, Angebote mit den als wichtig und wirksam ermittelten Standards strukturiert und langfristig zu fördern.

Nach einer Pause wurden weitere Projekte vorgestellt, die aufsuchend im Netz arbeiten. Behandelt wurden dabei Themen wie Hate Speech, radikale und extremistische Narrative auf Social-Media-Plattformen sowie aufsuchende Beratungsarbeit in den sozialen Medien für zugewanderte Frauen.

Ein gelungener Austausch

In der Plenumsdiskussion wurden offene Fragen, künftige Handlungsempfehlungen und noch zu bewältigende Herausforderungen diskutiert. Alle Projekte, die beim Fachtag vorgestellt wurden, haben gemein, dass sie Neuland betreten haben und mit befristeten Fördergeldern ausgestattet sind. Die Wirksamkeit und Innovation der Projekte ist gegeben und wird allgemein anerkannt und geschätzt, dennoch fehlen längerfristige und breit gedachte Perspektiven für Verstetigungen, sowie Ressourcen für Weiterentwicklungen und Ausbau. Hier sind Politik und Verwaltung gefragt, Lösungen zu finden. Soziale Arbeit muss zwingend ergänzend zu bestehenden analogen Versorgungsstrukturen breit aufgestellt in den digitalen Räumen aufsuchend Bedarfe identifizieren und Hilfeangebote machen.

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Foto oben v.l.: Katrin Bahr (Geschäftsführende Vorständin Condrobs e. V.), Beatrix Zurek (Leitung Gesundheitsreferat der Landeshauptstadt München), Burkhard Blienert (Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen), Frederik Kronthaler (Geschäftsführender Vorstand Condrobs e. V.), Dr. Niklas Müller (Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege)
Credit alle Fotos: Condrobs

 

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